Projekt Wintermond
war sein einziges Kind. Als er fünf Jahre alt war, hatte seine Mutter sie verlassen und war nach LA gegangen. Sie kehrte nie zurück.
»Ehrlich gesagt, lief es mit der Ehe von Anfang an nicht besonders gut. Chuck und ich standen uns immer sehr nahe. Er war ein wundervolles Kind, wenn auch mitunter ein bisschen dickköpfig. Seine Idee, allein in die Schweiz zu fliegen, hat mich nicht gerade begeistert. Aber er ließ sich nicht beirren. Hätte er doch nur auf mich gehört!«
In McCauls Augen schimmerten Tränen. Anschließend sprach er hauptsächlich über sich, seine Arbeit bei der New Yorker Polizei und den Wechsel zu einer Privatdetektei. »Vor ein paar Jahren habe ich mich selbstständig gemacht. In den meisten Fällen, mit denen ich mich beschäftige, geht es um langweilige Ehestreitigkeiten.«
McCaul trug keinen Ehering. Jennifer hätte brennend interessiert, ob er ein zweites Mal geheiratet hatte. Die Frage zu stellen erschien ihr jedoch zu aufdringlich.
»Wir sind da«, sagte McCaul.
Sie hatten Varzo erreicht. Die schmalen Gassen mit den malerischen Häusern waren an diesem trüben Regentag wie ausgestorben. McCaul fuhr an einem großen Platz vorbei und hielt auf den Bahnhof zu.
»Ist das Kloster außerhalb der Stadt?«, fragte er.
»Ja. Das hat Anton gesagt.«
Ein paar Minuten später sahen sie kurz hinter dem Ortsausgang eine kleine steile Straße, neben der ein Hinweisschild mit der Aufschrift Monastero stand.
»Das muss es sein.« McCaul bog in die Straße ein und fuhr den Berg hinauf. Nach ungefähr einem Kilometer endete die Straße auf einem kleinen gepflasterten Platz.
McCaul hielt, kurbelte die Scheibe herunter und sah sich um. Das Scheinwerferlicht fiel auf das von einer Mauer umgebene Kloster und die Klostergärten. In der Mitte der Mauer befand sich ein großes schmiedeeisernes Tor, das von einem Kruzifix überragt wurde. In einer Nische der Wand stand eine Gipsstatue der Mutter Gottes. Neben dem Tor hing ein alter Klingelzug. Aus der Dunkelheit traten die verschwommenen Umrisse eines Hofes mit einem Bogengang hervor. »Sprechen Sie Italienisch?«, fragte McCaul.
»Nein. Sie?«
»Ein paar Brocken. Es reicht aus, um in einem italienischen Restaurant Essen zu bestellen, und auch da mache ich noch Fehler.« Er zog die Handbremse an und wies mit dem Kopf auf das Kruzifix über dem Tor. »Hoffentlich spricht hier jemand Englisch.«
Sie traten hinaus in den strömenden Regen. McCaul ging mit der Taschenlampe voran und zog am Klingelzug. Das leise Geräusch klang durch die Nacht. Da sich nichts regte, zog McCaul nach einer Weile mehrere Male ungeduldig an der Klingel. Schließlich vernahmen sie Schritte. Eine Gestalt eilte mit einem Regenschirm und einer Taschenlampe aus dem Kloster zum Tor. Es war ein junger Mönch in einer braunen Kutte. »Si?«
»Sprechen Sie Englisch? Parla Inglese?«
»No. Non parlo Inglese. Auto kaputt?« Der Mönch ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe zuerst über den Geländewagen und dann über McCaul und Jennifer gleiten. Der späte Besuch verwirrte ihn. Jennifer sagte enttäuscht: »Nein, unser Wagen ist nicht kaputt. Wir müssen mit jemandem sprechen, der Englisch versteht. Vielleicht mit dem Abt oder einem der Mönche. Capisce?«
Der Mönch schüttelte den Kopf. McCaul erklärte ihm noch einmal in aller Ruhe ihr Anliegen, aber es war Zeitverschwendung. »Momento«, sagte der junge Mann, ehe er zurück ins Kloster eilte. Ein paar Minuten später kehrte er mit dem Regenschirm und der Taschenlampe in Begleitung eines älteren, bärtigen Mönchs zurück. Er trug ebenfalls die braune Kutte, die mit einer Kordel zusammengeschnürt war. Auf seinem Oberkörper baumelte ein großes Kruzifix. Er hatte ernste, erhabene Gesichtszüge.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte McCaul.
»Ja. Ich bin Vater Angelo. Was wünschen Sie?«
»Wir möchten den Abt sprechen.«
»Um was geht es?«
»Das ist ziemlich kompliziert, Vater. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen werden. In zehn Minuten könnten wir Ihnen alles erklären.«
»Der Abt ist verreist. Sind Sie Amerikaner?«
»Ja.«
»Das hört man.« Er spähte zu dem Nissan hinüber, der vor dem Tor stand. »Haben Sie sich verfahren, oder gibt es Probleme mit dem Wagen?«
»Nein. Könnten wir hereinkommen?«
»Tut mir Leid. Es ist schon sehr spät«, sagte der Mönch ungeduldig. »Wir haben soeben die Abendandacht beendet. Hier im Kloster gehen wir früh schlafen. Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher