Promenadendeck
Doktor? Sie können doch nicht hier unten bei mir bleiben.«
»Herr Brandes, es ist eine Übung. Weiter nichts! Sie haben doch die Durchsage gehört …«
»Nichts habe ich gehört. Es sprach zwar jemand im Bordradio, aber da saß ich auf der Toilette.«
»Es ist lediglich eine Übung für den Notfall. Damit alles reibungslos, schnell und ohne Panik vor sich gehen könnte.«
»Ich weiß.« Brandes lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und atmete tief und hastig. Das halbe Glas Wodka begann zu wirken, in seinem Kopf rauschte es. Es hörte sich an, als quirle Wasser durch ein Leck. Ein Leck … das Schiff sank … »Sie wollen mich nur beruhigen. Danke, Doktor. Ich bin gefaßt auf das Ende. Ich habe es kommen sehen.«
»Ich bin ein höflicher Mensch, Herr Brandes«, sagte Dr. Paterna rauh, »und es gibt bisher keinen Patienten, der sich über mich beschweren konnte. Ihnen aber möchte ich als Therapie eine kleben. Sie sind ein hysterischer Schlappes! Gleich kommt der neue Signalton: Ende der Übung.«
»Wissen Sie, was das Orchester auf der Titanic im Augenblick des Unterganges gespielt hat? Den Choral Näher, mein Gott, zu Dir … Damit sind sie versunken. Was wird hier gespielt?«
»Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise …« , sagte Dr. Paterna sarkastisch.
»Sehr sinnig.«
»Ich glaube, Sie müssen noch einen vierstöckigen Wodka trinken. Herr Brandes, so einen wie Sie habe ich an Bord noch nicht erlebt. Wie kann ich Ihnen bloß diese pathologische Angst nehmen?«
»Es ist alles gut, wenn ich wieder an Land bin. Das Meer ist fürchterlich.«
»Warum nehmen Ihre Sangesbrüder Sie nicht unter den Arm? Wo waren die überhaupt bei dem Alarm?«
»Wenn die saufen, merken die noch nicht einmal, daß das Schiff sinkt. Die kriegt keiner vom Glas weg.«
»Saufen? Morgens um zehn schon?«
»Was ist eine Uhrzeit?« Brandes wurde ruhiger, sein Atem hechelte nicht mehr, dafür kreiste der Wodka in seinem Hirn. »Sie werden die Brüder noch kennenlernen, Doktor.«
»Bloß nicht!« Dr. Paterna erhob sich von der Bettkante und sah auf Brandes hinab. Über den Gang trappelten viele Schritte, Stimmengewirr zog an der Tür vorüber. Die Alarmübung war vorbei. Die Neulinge wußten nun von den Offizieren, wie sicher das Schiff war, daß es kaum untergehen konnte. Und wenn es tatsächlich sinken sollte, gab es für jeden einen Platz in den Rettungsbooten. Die Sicherheit war oberstes Gebot an Bord.
»Glauben Sie nun, daß alles nur eine Übung war?« fragte Dr. Paterna.
»Ja.« Brandes blickte ihn flehend an. »Verzeihen Sie mir, Doktor. Aber ich kann ja nichts dafür. Ich bin nun mal so. Hysterisch, nicht wahr?«
»Ich würde es ein krankhaftes Angstsyndrom nennen.«
»Ihr Mediziner seid immer so höflich mit euren Spezialausdrücken.« Brandes richtete sich auf, legte sich aber sofort wieder hin. Das Zimmer begann vor ihm zu kreisen, der Wodka hatte ihn voll erwischt. »Wie kann man mir helfen?!«
»Sind Sie verlobt, verheiratet?«
»Nein. Eine Freundin, aber keine feste Bindung. Warum, Herr Doktor?«
»Sie sollten hier an Bord eine nette Bekanntschaft machen. In drei Tagen ist in der Olympia-Bar ein Singletreffen, wo man sich zwanglos kennenlernen kann. Sie werden sehen: Eine hübsche Frau an der Seite wirkt Wunder.«
»Wenn ich zu dem Singletreffen gehe, wird der ganze Gesangverein über mich herfallen. Die kriegen es fertig und bringen mir ein Ständchen. Du hast Glück bei den Frau'n , bel ami … Ich bin dann für die ganze Reise blamiert.«
»Sie stehen doch über solchen Kindereien, seien Sie souverän! Vor Ihnen liegen vier herrliche Wochen, die sollen Sie genießen, sonst nichts! Und wenn Ihre Sangesbrüder renitent werden, zitieren Sie einfach Götz von Berlichingen.«
»Ich will's versuchen, Herr Doktor.« Brandes gab Dr. Paterna die Hand, aber er blieb liegen. Wirklich, ich bin halb besoffen, dachte er. Ein halbes Wasserglas Wodka um 10 Uhr vormittags … ich bin doch kein russischer Muschik … »Ich danke Ihnen!«
Dr. Paterna nickte ihm freundlich zu und verließ die Kabine. Auf dem Gang traf er den II. Ingenieur, der hinunter zum Maschinenraum ging.
»Schwerer Fall?« fragte er.
»Gar nicht. Dem fehlt nur ein Erfolgserlebnis.«
»Gib ihm die Kabinennummer von Mrs. White!«
Sie lachten laut und gingen in verschiedene Richtungen davon.
Oliver Brandes schlief. Er hatte einen klassischen Traum: Eine wundervolle nackte Frau entstieg dem schäumenden Meer. Aphrodite, die Schaumgeborene.
Mit
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