Promenadendeck
vorsichtig setzte, als könne er Erschütterungen auslösen. »Ein herrlicher Tag heute.«
»Ja. Blanker blauer Himmel, Sonne, ein glattes Meer …« Schwarme stockte betroffen. So etwas Dämliches! Du Idiot! Das sagst du einem Blinden!
Dabrowski lächelte milde. »Sprechen Sie ruhig weiter. Was Sie sehen, fühle ich, ich kann es mir vorstellen.«
»Natürlich.« Schwarme wischte sich über die Stirn. So natürlich ist das gar nicht, dachte er. Wie kann man als Blinder nur vom Hören figürliche Begriffe haben? Da sagt jemand: »Sieh dir die schönen hohen Palmen an!« Wie kann er, der Blinde, sich innerlich vorstellen, wie so eine Palme aussieht? Palme muß für ihn doch nur ein Wort sein. »Erlauben Sie mir eine ganz unverschämte und dumme Frage?«
»Bitte!«
»Wie können Sie wissen, wie Blau aussieht? Oder die Wolke?« Schwarme lüftete sein Gesäß um ein paar Zentimeter: »Dr. Schwarme, mein Name. Rechtsanwalt.«
»Dabrowski. – Ihre Frage ist berechtigt, nur trifft sie für mich nicht zu. Ich konnte bis zum sechsundzwanzigsten Lebensjahr sehen wie Sie.«
»Ach so. Verzeihung, Herr Dabrowski.«
»Dann setzte plötzlich auf beiden Augen eine Sehnervlähmung ein. Ich habe die besten Ärzte konsultiert, von Turin bis Tokio, von Wien bis Rio. Sogar in Moskau war ich! Alle waren fasziniert von meiner Krankheit, so etwas hätten sie noch nie gesehen – aber helfen konnte mir keiner. Innerhalb eines Jahres war ich total blind. Und das nun schon dreizehn Jahre. Es gibt keine Hoffnung mehr, das ist mir klar. Und es geschehen auch keine Wunder. Aber wenn Sie mir jetzt sagen: Vor uns ist ein glattes, tiefblaues Meer, dann kann ich es sehen, aus der Erinnerung heraus.«
»Das ist großartig.« Dr. Schwarme trank sein Glas leer und blickte auf seine Uhr. Gleich begann auf dem Sportdeck das Shuffleboardspiel. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werden wir uns öfters unterhalten.«
»Aber bitte, Herr Rechtsanwalt.« Dabrowski nickte zu Schwarme hin. »Es würde mich freuen.«
Er sah Dr. Schwarme hinaus aufs Deck gehen und musterte alle, die an der Bar saßen oder standen. Heute nachmittag ab 17.45 Uhr begann für die 1. Tischzeit der Cocktailempfang von Kapitän Teyendorf. Anschließend war das Galaessen. Das gleiche passierte dann noch einmal mit der 2. Tischzeit von 19.45 Uhr an. Schließlich startete dann im Sieben-Meere-Saal der große Willkommensball, auf dem der Conférencier Hanno Holletitz die Künstler dieser Kreuzfahrt vorstellte. Es war für Paolo Carducci – oder wie immer er jetzt auch an Bord heißen mochte – die erste Gelegenheit, sich den Schmuck aus nächster Nähe anzusehen und die Damen auszuwählen, die sein Interesse lohnten. Man konnte sich leicht ausrechnen, daß heute abend einige Millionen an Ohren, Hälsen, Armen und Fingern glitzern würden.
Wie könnte Carducci aussehen, fragte sich Dabrowski. Man hatte nur ein uraltes Foto zur Verfügung, eine typische Polizeiaufnahme, die wiederum einen typischen Sizilianer zeigte, schwarzgelockt, unrasiert, grinsend – ein miserables Foto eines undurchsichtigen Ganoven. In den Jahren seiner steilen Karriere als internationaler Juwelendieb hatte Carducci sich grundlegend verändert, arbeitete mit Perücken und Make-ups, gefärbten eigenen Haaren und sogar – bei einer Fahrt durchs östliche Mittelmeer – mit einer Glatze. Er scheute vor nichts zurück. Wie sah er heute aus, hier an Bord des MS Atlantis?
War es der elegante blonde junge Mann dort am Bartresen, der seinen zweiten Cocktail trank? Dabrowski sah dabei Herbert Fehringer an. Oder der Mann im weinroten Bademantel mit den Goldstreifen, der ein Mixgetränk aus Kokosmilch und weißem Rum trank? Es handelte sich um Tatarani, den Weingutbesitzer. Oder der Playboy dort in der Barecke, der gerade mit einer Dame im buntgemusterten Bikini flirtete und eine Flasche Champagner hatte kommen lassen? In der Passagierliste stand er als François de Angeli, Immobilienhändler. Oder war es einer der völlig unauffälligen Herren, die sich jetzt, am ersten Tag, beschnüffelten; bei einem Bier und einem Gespräch, das sich um Politik drehte. Unter den Gesprächspartnern herrschte Einigkeit darüber, daß die Gewerkschaften an allem schuld seien. Diese Übereinstimmung war eine gute Grundlage für die gemeinsame wochenlange Fahrt durch den Stillen Ozean.
Dabrowski erhob sich, nahm seinen weißlackierten Stock und tastete sich nach draußen aufs Deck. Man wich ihm zuvorkommend aus, gab ihm den Weg frei
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