Prophetengift: Roman
Kleine Grüppchen von Leuten hockten bewegungslos auf ihren Veranden oder den Stufen vor ihren Häusern und warteten auf die leichte Brise vom Meer, die gegen halb sechs einsetzte und für etwas Abkühlung sorgte.
Chuck winkte den wenigen Nachbarn zu, die er kannte: Mrs Rodriguez und ihrer langsamen Tochter Mia, die sich den Fernseher auf die Veranda geholt hatten, dem alten Joe Nash, der pflichtbewusst sein winziges Fleckchen grünen Rasens und den riesigen blauen Hortensienbusch wässerte, auch wenn er jeden
Tag ein bisschen gebeugter ging und seine Bewegungen ein wenig langsamer zu werden schienen. Benny Jefferson und seine neue Frau Angela, die ihren Pitbull Charlene spazieren führten, bogen gerade um die Ecke.
Alles in allem war es eine ordentliche Gegend, zumindest bei Tageslicht. Das war der Hauptgrund dafür, dass Chucks Bewährungshelferin ausgerechnet dieses Rehabilitationszentrum für ihn ausgesucht hatte. Und Chuck war ihr dankbar dafür, denn das Haus lag nicht nur in einer relativ drogenfreien Gegend, auch die meisten seiner Mitbewohner waren ruhige Leute, wenn auch nicht sonderlich freundlich – mit Ausnahme von Hank, seinem ausgesprochen redseligen Zimmergenossen.
Ein paar Minuten später duckte Chuck sich und trat durch die Tür von High Class Liquors, woraufhin der schweigsame Mann hinter dem Ladentisch mit sicherem Griff eine Schachtel Merit Lights aus dem Regal nahm und sie aufrecht auf den Ladentisch stellte.
»Hallo Mr Kim«, begrüßte Chuck den schwarzhaarigen Mann.
Der reagierte mit einem kurzen Nicken, ohne dass sein neutraler Gesichtsausdruck sich geändert hätte. »Wäre das alles für heute, Mr Chuck?«
Chuck erwog, sich noch ein Snickers zu gönnen, aber dann fiel ihm ein, dass sein Geld ja noch etwas länger reichen musste.
Mr Kims Kasse piepte, Chuck reichte mit einer Hand das Geld rüber und schnappte sich mit der anderen seine Glimmstängel. Mr Kim gab ihm das Wechselgeld heraus.
»Danke«, rief Chuck über die Schulter zurück, als er den Laden verließ.
Aus Gründen der Selbstdisziplin öffnete er die Schachtel erst, als er zu Hause angekommen war. Er sprang die Vorderstufen hinauf, öffnete die Fliegengittertür, erklomm die Treppe zu dem Zimmer, das er mit Hank teilte, und setzte sich aufs Bett,
aber sobald er das getan hatte, fanden seine Finger schnell ihren Schatz. Ahhhh.
Dann griff er nach dem Hochglanzmagazin Vanity Fair , das auf dem Nachttisch lag, und kehrte zu dem Artikel zurück, den Hank für ihn angestrichen hatte. Es ging um eine neue spirituelle Bewegung, die sich ausbreitete wie verrückt. Hank, der Chucks Phobie vor traditionellen Religionen kannte, hatte sich gedacht, diese neue Bewegung könne vielleicht die »Höhere-Macht-Lücke« füllen, die seit Langem in Chucks Zwölf-Schritte-Programm klaffte.
Er sog einen zweiten Zug in seine Lungen und las erneut den provozierenden Titel: »Wurde das Ende der Welt verschoben?«
Der Artikel bot einen objektiven und dennoch subtil anreizenden Rückblick auf Entstehung und Aufstieg einer Bewegung, die sich in trendigen Gesellschaftskreisen rapide ausbreitete, in exklusiven Hotspots, wo die Promis sich tummelten, in wichtigen Blogs und Podcasts, aber auch im Mainstream-Radio und sogar im Fernsehen. Im Zentrum dieser Bewegung – die sich lächerlicherweise Evo-Love nannte – stand eine messianische Gestalt namens Sebastian Black, ein Mann, der laut Angaben seiner Fans nachweisbar die Gabe der Telepathie besaß und zudem die grünsten Augen und den heißesten Körper diesseits eines brasilianischen Kalendermodels hatte.
Toll, und wen interessierte das?
Doch als Chuck sich in den Artikel vertiefte, gefiel ihm zunehmend, was er las: Toleranz gegenüber allen Kulturen und sexuellen Orientierungen, gemeinsames Hinarbeiten auf eine sauberere, grünere Welt, rücksichtsvolles Verhalten gegenüber allen Lebewesen, Reinkarnation und Karma, Evolution als Mittel, mit einem sich gleichermaßen entwickelnden Gott Schritt zu halten, und so weiter.
Weiter unten schilderte der Artikel ein Familiendrama mit Mord und anschließendem Selbstmord, das sich kürzlich ereignet hatte
und deren Akteure eine kurzfristige Verbindung zu Evo-Love gehabt hatten. Die Angehörigen der Opfer hatten angeblich vor, eine Zivilklage gegen Sebastian und seine Mutter anzustrengen, wegen »Betrugs und Nötigung«.
Dass Chuck irgendwann fast das Herz stehen blieb, lag nicht an den Schilderungen der telepathischen Begabung des jungen Mannes,
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