Prophetengift: Roman
drückte die Türklinke hinunter. Abgeschlossen. Er klopfte erneut, lauter diesmal.
Im Eingangsbereich ging Licht an und das hohe Hundekläffen wurde lauter. Die Tür wurde geöffnet und Sebastian sah in das bebrillte Gesicht einer kleingewachsenen älteren Frau.
Ein hektischer Yorkshire Terrier kreiste um ihre zierlichen Füße, die in Hausschuhen steckten.
»Ja?«
»Ja, also, das ist doch das Hotel, oder?« Sebastian lächelte halb. »Ich brauche ein Zimmer.«
»Natürlich.« Sie öffnete die Tür etwas weiter und musterte ihn prüfend mit zusammengekniffenen Augen hinter ihren Brillengläsern. »Bitte kommen Sie doch herein. Ich bin Libby Zorben.«
»Ich bin Sebastian«, erwiderte er.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie. »Sie sind der Junge von dieser Religionsgemeinschaft, die wir verabscheuen.« Sie musterte ihn erneut und drehte sich dann auf dem Absatz um.
Sebastian folgte ihr.
»Zu dieser Jahreszeit haben wir selten Gäste«, erklärte sie über die Schulter gewandt, »und es war furchtbar regnerisch. Sie können sich also ein Zimmer aussuchen.«
Kurz darauf stand Sebastian in einem Raum, der einmal ein Lagerhaus gewesen sein musste. Die hohe Deckenkonstruktion mit halbmondförmigen Bögen wurde von Redwood-Balken gestützt, und die Dielenböden aus Eiche waren so abgetreten, dass die Maserung der härteren Holzschichten deutlich hervortrat. Am Westende des Raumes war eine Reihe hoher Glastüren, die den mondbeschienenen, zinnfarbenen Ozean einrahmten. An den übrigen Wänden standen hohe, bis zur Decke reichende Regale voller Bücher; dazwischen hingen Kunstwerke, Originale – klassische und zeitgenössische –, dezent beleuchtet durch Halogenspots.
»Sebastian, das ist Tess«, stellte Libby vor. »Tessie, wir haben einen Gast.«
Die ältere Frau mit langem grauem Haar, die es sich auf einem durchgesessenen Sofa neben dem prasselnden Feuer gemütlich gemacht hatte, hob den Kopf, legte das Buch hin, in dem sie gelesen hatte, und taxierte ihn abschätzend. »Oh je«, bemerkte sie kühl und klopfte auf das Sofakissen neben sich. »Komm, Maxi.«
Der kleine Yorkshire Terrier sprang auf das Kissen neben Tess und rollte sich zu einem pelzigen Croissant zusammen.
»Ich brauche ein Zimmer für die Nacht«, erklärte er Tess.
»Verstehe«, entgegnete sie.
»Möchten Sie ein Glas Wein?«, bot Libby an. »Es ist ein perfekter Abend für diesen schönen Sea Smoke Pinot Noir. Wir halten uns an einem Glas davon fest, aber wenn Sie Weißwein vorziehen, wir haben noch etwas von einem recht guten aus den Talley Vineyards, glaube ich.«
»Und zwar aus dem Rincon-Valley«, warf Tess ein, » nicht dem Arroyo.«
»Ich trinke noch nicht«, teilte Sebastian den Damen mit.
»Wie schade«, bemerkte Tess.
»Sie sehen müde aus«, sagte Libby. »Ist das alles Gepäck, was Sie dabeihaben?«
Sebastian nickte. »Ja.«
»Vor wem laufen Sie weg?«, erkundigte sich Tess und leerte ihr Weinglas.
Sebastian dachte über die Frage nach. »Vermutlich vor meiner Mutter.«
»Tut das nicht jeder?«, murmelte Tess. Dann kraulte sie den Hund am Bauch, und das Geschöpf warf sich auf die Seite und begann mit den Pfoten in die Luft zu treten. »Meine Liebe, ich glaube, das Monette-Zimmer würde ihm zusagen, meinst du nicht auch?«
»Spricht man das nicht Mo-nay aus?«, fragte Sebastian.
» Mo-nett , junger Mann«, korrigierte Libby ihn. »Wir haben alle unsere Suiten nach verstorbenen Freunden von uns benannt, in diesem Fall nach dem bekannten Autor Paul Monette.«
»Oh.« Er dachte kurz nach. »Mir ist es gleich, wie das Zimmer aussieht, solange es dicht am Wasser liegt; ich möchte das Meer hören.«
»Dann sollte er die Curcio-Suite nehmen«, schlug Tess vor. »Die fällt praktisch ins Meer. Warum kommen Sie nicht wieder zurück und erzählen uns, wovor Sie weglaufen, sobald Sie sich
eingerichtet haben? Dr. Zorben ist Psychotherapeutin. Und zwar eine ziemlich gute, wenn ich das so sagen darf.«
»Also, nein«, antwortete Sebastian. »Ich brauche dringend etwas Schlaf.«
»Ihre Spezies braucht also tatsächlich Schlaf?« Tess’ Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Lass den armen Jungen in Ruhe«, rügte Libby mit einem Augenzwinkern.
Blicke wurden getauscht.
»Also gut«, erklärte Tess. »Ich hole den Schlüssel.« Mit einem Seufzer hievte sie sich vom Sofa hoch und schlurfte einen finsteren Flur hinunter.
»Beachten Sie sie gar nicht«, sagte Libby zu Sebastian, als Tess verschwunden war, »sie ist heute ein
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