Prophetengift: Roman
verkündete Tess stolz. »Ende der Sechzigerjahre, als jedermann
zum Hippie wurde und niemand sich mehr die Haare schneiden ließ, zwangen mich die alten Spinner, für die ich arbeitete, meinen Stuhl zu räumen. Aber ich habe das Haareschneiden nie verlernt. Ich schneide Libbys Haar einmal im Monat. Oder zumindest habe ich das, bevor ...« Sie verstummte und presste die Lippen zusammen.
Sebastian tat so, als wüsste er nicht, was sie hatte sagen wollen. »Klar. Danke. Wo soll ich hingehen?«
Tess wies mit dem Kopf in Richtung Veranda. »Ich komme gleich zu Ihnen raus.« Sie musterte ihn. »Und ich nehme an, danach werden Sie etwas zu essen haben wollen. Sie haben den unverkennbaren Ausdruck eines hungrigen Jungen im Gesicht. Wie wärs mit einem Sandwich und Salat?« Sie hob die Hand. »Natürlich habe ich nicht vergessen, dass Sie Vegetarier sind, aber ich nehme mal an, etwas Putenbrust könnte nicht schaden.«
Sebastian war tatsächlich am Verhungern und ein einfacher Mittagsimbiss klang großartig – insbesondere, wenn es so gut schmeckte wie das Nudelgericht, das er gestern Abend verspeist hatte. »Das wäre großartig, wenn es, äh ... wenn es nicht zu viel Mühe macht.«
Sie blickte auf und das Messer erstarrte mitten in der Bewegung. Nach einem Moment fuhr sie mit dem Gurkenschneiden fort. »Kein Problem«, entgegnete sie.
Etwa eine Stunde später schaute Sebastian auf den Boden. Obwohl ein frischer Wind vom Meer den Großteil seiner abgeschnittenen Locken von der Veranda auf den Sand geweht hatte, lag noch genug zu seinen Füßen verteilt, um ihm klarzumachen, dass sein Erscheinungsbild sich drastisch verändert haben musste.
»Sie sind ein durchaus gut aussehender Junge, wissen Sie«, bemerkte Tess, während sie seine Schultern sauber fegte. »Sie sollten wirklich überlegen, ob Sie sich diese Bon-Jovi-Mähne nicht wieder wachsen lassen wollen.« Sie hielt ihm einen Handspiegel hin und er betrachtete das Ergebnis: Statt ihm in die Stirn und fast bis auf die Schultern zu fallen, war sein blondes Haar jetzt kurz – an den Seiten so kurz, dass man seine etwas spitzen, fast elfenhaften Ohren erkennen konnte, und über der Stirn etwas länger, sodass es hochstand.
Gar nicht mal schlecht.
Er spürte, wie Schritte die Holzplanken unter seinen Füßen erzittern ließen, ließ den Spiegel sinken und sah Libby näher kommen.
»Tess, du hast noch immer ein Händchen dafür!«, rief sie aus. »Und Sie«, sagte sie zu Sebastian, »Sie haben Barrymores Profil!«
»Ich sehe aus wie Drew Barrymore?« Sebastian war verwirrt.
Libby und Tess lachten.
» John Barrymore«, korrigierte Tess lächelnd. »Drews Vorfahr.«
»Wenn ihr so weit seid«, begann Libby, »das Essen ist fertig. Und Tess, Ramon ist gekommen, um das undichte Dach über dem Flur zu flicken. Könntest du ihm bitte zeigen, wo das Wasser durchgekommen ist?«
»Bin gleich da.« Tess begann ihre Scheren und Kämme einzusammeln.
»Vielen Dank für den Haarschnitt«, sagte Sebastian zu ihr, als sie ins Haus zurückgingen. »Es sieht gut aus.«
Tess fegte ihm ein paar übrig gebliebene Strähnen von den Schultern. »Sie können sich revanchieren, indem Sie nach dem Essen die Küche aufräumen.«
Sebastian trug seinen Salat, das Sandwich und das Glas Milch auf die Veranda hinaus und setzte sich an den Kaffeehaustisch
mit Blick auf das ruhige blaue Wasser jenseits der Bruchstücke des zerstörten Piers.
Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel und wärmte ihm Nacken und Schultern durch das Sweatshirt hindurch, während eine leichte Meeresbrise sein Gesicht umspielte und es kühlte. Und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, begann Sebastian sich zu entspannen – und als er das merkte, fiel ihm wieder ein, wie viele Gründe er hatte, das nicht zu tun: die fanatischen E-Mails, Kittys forderndes Gezeter, der tote kleine Luke und der drohende Prozess und dieses eine Mädchen, das er hatte anrufen wollen, obwohl er sich jetzt nicht mal mehr an ihren Namen erinnern konnte.
Sebastian dehnte seinen Nacken und setzte sich aufrechter hin. Dann biss er in sein Sandwich und seine Geschmacksknospen registrierten entzückt scharfen Senf, cremigen Schweizer Käse, saftige Tomaten und auf den Punkt gegarte, gesalzene Putenbrust.
Er spülte das Sandwich mit etwas Milch hinunter und beugte sich vor, um einen Schwarm Möwen zu beobachten, der zu seiner Linken plötzlich aufflog und durch die Luft glitt. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den
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