Prophetengift: Roman
davon überzeugt, dass dieses besondere Talent Sie irgendwie zu einem Übermenschen macht?«
»Ja. Zudem waren wir arm, und sie hat sich gedacht, es ließe sich vielleicht Kapital aus meinen Fähigkeiten schlagen.«
»Die alte Jahrmarktnummer«, bemerkte Tess.
»Nur dass es keine Nummer war«, erwiderte Sebastian. »Wir begannen in diese kleinen Kirchen von Iglesia Pentecostal de Jesucristo in Van Nuys zu gehen – das sind Pfingstler , und die glauben
an eine persönliche Beziehung zu Gott. Es gab also einen Teil des Gottesdienstes, in dem ich dann ›Botschaften vom Heiligen Geist‹ empfing und versuchte denen zu helfen, die Hilfe brauchten. Es gibt übrigens furchtbar viele Menschen, die leiden.« Er schaute die Frauen an und sie sahen die Trauer in seinen Augen.
»Das ist seit vierzig Jahren auch mein Geschäft«, bestätigte Libby leise. »Ich weiß das sehr wohl.«
»Und sprechen Sie Spanisch?«, wollte Tess wissen.
»Nein, ich nicht. Aber meine Mutter hat übersetzt – sie ist Halb-Kolumbianerin.«
»Aber Sie haben doch blondes Haar und ...« – Libby beäugte ihn – »grüne Augen. Aber vermutlich könnte man Ihren Teint als bräunlich beschreiben.«
»Woher kommt dann der Name Black?«, fragte Tess.
»Ihr Vater, mein Großvater, war ein hochgewachsener Ire.«
»Eine umwerfende Kombination, wie bei Raquel Welch«, bemerkte Tess, tief in Gedanken versunken. »Sie müssen einen ziemlichen Wirbel verursacht haben. Ein großer, gut aussehender Jüngling, der mit Gott kommuniziert und seine Botschaften an die trauernden Massen weitergibt.« Sie sann über das Szenario nach. »Der aus dem Grab zurückgekehrte Cortes.«
»Sie müssen ein kleines Vermögen verdient haben«, fügte Libby hinzu.
»Oh ja.« Sebastian nickte. »Bald gab es in unseren Gottesdiensten nur noch Stehplätze und wir mussten ständig größere Versammlungsorte suchen. Aber es war hart, weil es nie aufhörte. Abend für Abend diese weinenden Menschen, die da standen und beteten und mich anbeteten, als wäre ich Gott. Also hat Kitty es eine Stufe weiter getrieben: Sie beauftragte eine Firma damit, uns eine schicke Website zu erstellen – und die brachte uns bald ziemlich viel Geld ein, denn wir nahmen Mitgliedsbeiträge von den Mitgliedern unserer Religionsgemeinschaft und es
kostete auch was, sich meine Gottesdienste runterzuladen – und wir gingen dazu über, die Gottesdienste in Bankettsälen abzuhalten. Dann, ein Jahr später, kam ich in den Kongresszentren überall in den großen Städten der USA groß raus. Wir fingen an richtig Geld zu scheffeln, und das steuerfrei, und da habe ich die Schule abgebrochen. Kitty wurde meine Pressesprecherin und ich fing an, die Runde bei den Talkshows zu machen, und dann wurde alles völlig verrückt, besonders nach der Finanzkrise: Die Leute waren verzweifelt und fingen an dämliche Sachen zu machen, und sie brauchten etwas, das ihnen Hoffnung gab. Sie brauchten etwas, an das sie glauben konnten.«
»Also, auf welcher Grundlage hat Ihre Mutter Sie als einen neuen Messias verkauft, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen?«, fragte Libby. »Was gab es sonst noch außer Ihrer angeblichen Telepathie?«
Sebastian schnitt eine Grimasse. »Die Leute neigen zu der Annahme, jemand, der gut aussieht, müsse irgendwie überlegen sein. Und da ich ziemlich groß bin und, Sie wissen schon, so gebaut bin, wie ich gebaut bin, und mein Gesicht so ist, wie es ist – ich will jetzt nicht prahlen, aber es war jedenfalls relativ einfach, die Leute zu überzeugen. Außerdem, wenn man sich die umfangreiche Endzeit-Prophetie anschaut, kann man das, was in der Bibel steht, ziemlich leicht so verdrehen, dass es ins eigene Dogma passt.«
»Zum Beispiel?«, fragte Tess.
Sebastian sah blinzelnd zur Decke hoch. »Zweiter Timotheusbrief, Kapitel 3, Vers 1-5«, verkündete er. » Du sollst auch darin ganz klar sehen, dass in den letzten Tagen (ehe diese Welt endet und Christus wiederkehrt schwere Zeiten kommen werden. Da werden die Menschen nur noch sich selbst lieben und das Geld, da werden sie große Worte gegeneinander und gegen Gott daherprahlen, da werden sie ihre Eltern verachten und für empfangene Liebe niemandem danken. Da werden sie von Gott ebenso wenig halten wie von Liebe und Versöhnlichkeit, werden
die Wahrheit über Gott und ihren Nebenmenschen verbiegen und verdrehen, werden sich selbst gegenüber keine Zucht und dem anderen gegenüber kein Erbarmen kennen, und alles, was gut ist, wird
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