Prophetengift: Roman
Van Nuys, weil eine ihrer alten Lehrerinnen von der Highschool ihr half, eine Stelle als Assistentin in der öffentlichen Bibliothek zu bekommen. Es gefiel ihr dort, weil sie gerne las, und sie konnte sich über alles informieren, was sie interessierte. Und es gab da so einen verrückten Alten, der sich immer merkwürdige religiöse Titel auslieh, und meine Mutter nahm die Bücher, wenn er sie zurückbrachte, und las sie selbst.
Aber sie stellte fest, dass er nicht an Schriften über Jesus, das Urchristentum oder das Alte Testament interessiert war; dieser Mann las Bücher über die Wiederkunft Christi, die Parusie, christliche Eschatologie und die Prophezeiungen der Apokalypse – die Werke von Nostradamus, James Stuart Russell, solche Sachen. Kitty, meine Mutter, war fasziniert von diesen neuen Erkenntnissen. Und ich nehme an, das hat sie ungeheuer beeinflusst.«
»Inwiefern?«, fragte Libby. »Und wie beeindruckend, dass Ihnen diese Begriffe und Namen so leicht von der Zunge gehen.«
»Also, jetzt kommt der sonderbarste Teil: Als ich ungefähr elf war, begann ich Stimmen zu hören.«
»Ich höre Libbys Stimme ja ständig «, witzelte Tess.
»Was haben diese Stimmen Ihnen gesagt?« Libby erwartete die üblichen Manifestationen einer Schizophrenie mit Beginn in der Adoleszenz.
»Erst dachte ich, es gäbe kein Muster. Aber vor ein paar Jahren wurde mir klar, dass ich die Gedanken anderer Leute hören kann, wenn sie wütend auf mich sind oder mich, äh, anziehend finden oder wenn ihnen etwas wirklich Schlimmes passiert ist und sie davon total gestresst sind. Abgesehen davon bleibt alles ruhig.«
»Aus welchem Grund, glauben Sie«, fragte Libby, »können Sie nur diese bestimmten Gedanken wahrnehmen?«
»Wir sind uns da noch nicht ganz sicher. Aber ...«, Sebastian zögerte, »wir glauben, es hat mit Überlebenstechniken zu tun: Schutz vor Gefahren, Fortpflanzung und Hilfe für die Hilfsbedürftigen. Kitty und ich glauben, dass der neue Mensch diese erweiterten Fähigkeiten brauchen wird, um die Erde nach der großen Holozän-Umbruchsperiode neu zu bevölkern und blühende Gemeinwesen aufzubauen.«
»Sie könnten also jetzt unsere Gedanken lesen?«, fragte Tess.
Lachend wandte Sebastian sich ihr zu. »Wenn Sie vorhätten, mich zu ermorden, oder wenn Sie mich ... sexy fänden, würde ich diese Botschaften wahrscheinlich sofort empfangen – es sei denn, Sie würden Ihre Gedanken bewusst abblocken, indem Sie sich auf etwas anderes konzentrieren. Aber wenn Sie eine traumatische Erfahrung gemacht hätten und seelische Schmerzen litten, müsste ich in einer Art verändertem Bewusstseinszustand sein, um Ihre Gedanken wahrzunehmen – beispielsweise an der Schwelle eines schläfrigen, meditativen Zustands.«
»Können Sie auch die Zukunft vorhersagen?«, fragte Libby vorsichtig.
Er schaute sie an. »Es passiert schon mal, dass ich Präkognitionen habe, aber sie sind irgendwie unscharf – nicht wie das, was ich von der Vergangenheit sehe. Diese Visionen, man nennt sie Retrokognitionen, können sehr spezifisch sein. Aber ich bin nicht der Einzige, der so was hat. Es laufen viele Hellsichtige herum, und nicht alle sind Schwindler.«
»Und wie manifestieren sich diese Botschaften?«, wollte Tess wissen.
»Das kommt darauf an. Manchmal höre ich tatsächlich Stimmen, so als würde jemand im Nebenzimmer telefonieren. Oder ich sehe Bilder im Kopf, wie bei einer aufblitzenden Erinnerung – nur sind es nicht meine Erinnerungen, sondern die eines anderen.«
»Wie ungewöhnlich!«, rief Libby aus.
Er nickte. »Also, als ich meiner Mutter davon erzählte, las sie gerade einen Text über die Parusie, und wunderbarerweise empfing sie am nächsten Tag eine erstaunliche Vision von einem heiligen Wesen, das ihr mitteilte, ich sei der wiedergekehrte Christus.«
»Gütiger Himmel«, sagte Tess.
»Nur auf der Basis dieser Umstände?«, fragte Libby.
»Eigentlich ...« – Sebastian zögerte – »... hat sie ihre Geschichte zu genau dem geändert, was Tess vorhin erwähnte: die unbefleckte Empfängnis. Sie hat sich selbst eingeredet, dass sie sich nicht erinnern konnte, wer sie geschwängert hat, weil Gott mein Vater war.« Grinsend schaute er Tess an. »Sie waren also gar nicht so weit vom Schuss.«
»Hat diese Kitty sie noch alle?« Das war Tess.
»Nein.« Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein, hat sie nicht.«
»Sie waren in einem Alter, in dem man leicht beeinflussbar ist, und Ihre Mutter hat Sie vermutlich
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