Prophetengift: Roman
oder?«
»Das FBI hat eine Akte über sie angelegt, aber bislang ist es der Gruppe sehr gut gelungen, unentdeckt zu bleiben. Die meisten der E-Mails kamen von anonymen Computern, also fast unmöglich zurückzuverfolgen, solange man nicht jede Menge Ermittlungskräfte einsetzt. Und mein Fall hat für das FBI keine sonderlich hohe Priorität, dazu geht im Moment im Mittleren Osten, in Mitteleuropa und bei den Drogenkriegen in Mexiko
einfach zu viel ab. Das heißt, solange die nicht tatsächlich was versuchen. Aber vor Kurzem hat diese Gruppe – sie nennen sich übrigens Gottes zornige Engel – mir eine Frist gesetzt, zu der ich meine Position als Religionsführer spätestens aufgeben soll. Wenn ich das nicht tue, werden sie mit mir machen, was sie schon mit Johanna von Orleans gemacht haben. Die war nämlich laut dieser Leute ebenfalls ein falscher Prophet, und sie haben sie angeblich umgebracht, um zu verhindern, dass das Ende der Welt schon gegen vierzehnhundert kam.«
Reed schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Kapier ich nicht.«
»Diese Leute sind verrückt, Reed, das ist der Punkt.«
»Das Paar, das du vorhin gesehen hast, gehört also zu dieser Gruppe?«
»Ich glaube nicht – zumindest glaube ich nicht, dass die Frau dazugehört.« Soll ich ihr von Amber erzählen? »Aber ich hatte das Gefühl, dass der Mann zu ihnen gehört; es war etwas zutiefst Dunkles an ihm. Ein verbogener Geist. Und jetzt sind beide hier irgendwo im Haus, was bedeutet, dass es hier nicht mehr sicher ist – nicht für mich und wahrscheinlich nicht mal für dich.« Er stand auf und begann nervös auf und ab zu tigern. »Coby muss alle Leute rausschaffen oder ich muss gehen. Jetzt gleich.«
»Aber wo willst du hin?«
»Wahrscheinlich weiter hoch nach Norden. Oder zurück nach Big Sur, wo ich mich mit zwei älteren Damen angefreundet habe.«
»Willst du heute noch aufbrechen? Jetzt sofort?«
»Wahrscheinlich morgen früh. Ich nehme an, Coby und seine Kumpels können dafür sorgen, dass diese Spinner hier rausfliegen.«
»Du könntest noch einen Tag bleiben«, schlug Reed vor. »Das Haus ist wirklich gut gesichert, und wir könnten dabei
helfen, dich zu beschützen. Ob du es glaubst oder nicht, Ellie kann mit einer Waffe umgehen.«
Sebastian schaute sie an. »Ich kann hier nicht bleiben, Reed. Und was mich ankotzt, ich hatte Coby extra gesagt, dass ich zu ihm fahre, um von etwas wegzukommen, und er hat mich den Wölfen vorgeworfen, nur damit er sich wichtig fühlen konnte.«
»Das weißt du?«
»Sagen wir einfach, ich habs mitbekommen. Er ist kein sonderlich komplexer Mensch.«
»Ich weiß!«, rief Reed aus – aber sie sprach nicht über Coby. »Unten im Yachthafen ist eine Bootsvermietung! Du könntest dich auf einem Boot verstecken, und ich verspreche, ich verrate niemandem, wo du bist. Der Yachthafen ist wirklich hübsch und wir könnten sogar mit dem Boot auf die Bucht hinausfahren ... das heißt, wenn du möchtest, und du könntest überall anlegen: Angel Island, Tiburon und Belvedere sind wunderschön. Du könntest sogar weiter nach Norden hochfahren, nach Mendocino.«
Sebastian dachte über die Idee nach: Wenn er auf der Bucht herumschipperte, würde er sich vielleicht auf angenehmere Dinge konzentrieren können, wie Libby es vorgeschlagen hatte, und sein genauer Aufenthaltsort würde ein Geheimnis bleiben.
»Gute Idee, Reed«, sagte er und ihre Blicke trafen sich. »Würdest du morgen früh herkommen, damit wir gemeinsam zum Hafen runtergehen können?«
Reed nickte lächelnd. »So gegen zehn?«
»Ich freue mich darauf.«
28
Samstagmorgen
Am nächsten Morgen erwachte Sebastian vom Ping seines iPhones, das eine Nachricht ankündigte. Er blinzelte zur Decke hoch, streckte sich und gähnte.
Gott, was ist denn jetzt schon wieder?
Er warf die Bettdecke ab und stolperte zur Kommode hinüber, wo er das Gerät gestern abgelegt hatte, als ihn urplötzlich eine Vision überkam ... wie vor ein paar Tagen, als er in der Curcio-Suite stand und Tess und Libby in der Arztpraxis sah. Nur sah er diesmal eine Landstraße in der Abenddämmerung, eine zweispurige Fernstraße, die schnurgerade durch ein flaches Tal führte, das von ausgetrockneten Hügelketten umgeben war. Da waren zwei Autos – eins am Straßenrand, zusammengedrückt wie eine Bierdose vom Aufprall gegen einen Telefonmast, während das zweite, größere Fahrzeug quer mitten auf der Fahrbahn stand, vorn total eingedrückt. Ein drittes Auto
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