Prophetengift: Roman
Richtung sah.
Selbst Reed schien von ihm eingenommen. Sie hörte sich seine Geschichten an und gab nachdenkliche, sensible Antworten, sie kicherte, wenn er eine Anekdote erzählte, und wenn er nach ihrer Meinung fragte, was er bei einigen wenigen Gelegenheiten tat, gab sie einen klugen Kommentar zu dem Thema ab.
Er fand sie exotisch und von exquisiter Schönheit; die Mischung aus äquatorialem und europäischem Erbe verlieh ihr eine ungewöhnlich anmutige, kultivierte Ausstrahlung. Und ihr Körper war vollkommen wie der eines Wäschemodels.
Doch nach einer guten Stunde spürte er, dass Reeds Aufmerksamkeit erlahmte, also setzte er noch einen drauf, was die »Promi-Aspekte« seines Lebens anging: Er unterhielt sie mit Geschichten über seine Begegnungen mit den Clintons und über seine Zusammenarbeit mit Jimmy Carter bei der Beschaffung der Mittel für ein Wohnungsbauprojekt, er erzählte, dass das Staples Center in nur sieben Stunden ausverkauft gewesen war und dass die Inselnation La Serena vorhatte, Evo-Love als Landesreligion einzuführen.
Aber zu seiner Verblüffung schien Reed immer weniger interessiert, je mehr er über sich selbst redete. Während er früher am Abend angefangen hatte, dieses besondere Gefühl von ihr aufzufangen, wirkte sie jetzt gelangweilt.
Das war ihm noch nie passiert. Was zum Teufel ist hier los?
Er nahm eine rasche Inventur seiner Verführungsroutine vor, die noch nie fehlgeschlagen war, und kam zu dem Schluss, dass er nichts ausgelassen hatte.
Also, an mir kann es nicht liegen, es muss an ihr liegen. Vielleicht ist sie lesbisch? Nein, Coby hat gesagt, irgendein Typ hat sie betrogen und sich gerade von ihr getrennt. Das ist es! Also ... vielleicht wird es ihr guttun, wenn sie merkt, dass jemand wie ich an ihr interessiert ist ...
Und während Sebastian sich neu auf Reed konzentrierte, die Musik dröhnte, die Kerzen flackerten und Gelächter widerhallte wie ein Nebel, der über dem Meer von schnatternden Stimmen aufstieg, durchsuchte sein sechster Sinn – wie eine unsichtbare Militärdrohne – unablässig den Raum, das restliche Haus und die Umgebung.
Dann wurde gemeldet:
Jemand kommt.
Sebastian beschloss die Warnung zu ignorieren – fürs Erste. »Also, was willst du nach dem College machen?«, fragte er Reed.
Sie lächelte ihn warm an. »Ich würde gern mit autistischen Kindern oder Kindern mit Down-Syndrom arbeiten«, sagte sie, »oder Physiotherapeutin für Kinder mit Himtraumata werden – aber dafür braucht man ein langes Zusatzstudium, entweder einen Master-Abschluss oder einen Doktor, und das wird richtig teuer.« Sie strahlte ihn an. »Und was ist mit dir? Wirst du dich den Rest deines Lebens deiner Religionsgemeinschaft widmen?«
Sebastian ließ seinen Nacken knacken und rutschte hin und her. »Ehrlich, ich weiß es nicht. Es scheint, dass ich irgendwie an einer Weggabelung angelangt bin, und ich ... versuche einen Frontalzusammenstoß zu verhindern.«
»Was würdest du denn am liebsten machen?«
Er zuckte die Achseln. »Das Komische ist, darüber habe ich vorher noch nie richtig nachgedacht.«
»Warum nicht?«
»Hauptsächlich, weil meine Mutter mich immer gedrängt hat, alles für unsere Religionsgemeinschaft zu geben – ich hatte gar keine Zeit, mir zu überlegen, was für Möglichkeiten mir denn sonst noch offenstünden. Sie hat mich nicht mal die Schule fertig machen lassen, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Sie hat dich dazu gebracht, ohne Abschluss von der Schule abzugehen?« Reed lachte. »Das ist ja mal was ganz Neues. Warum
machst du denn nicht die Schule fertig oder belegst so einen postschulischen Kursus zum Erlangen der Hochschulreife?«
»Weil ich bei der Arbeit, die ich mache, nie gedacht hätte, dass ich irgendein Diplom dafür brauche. Einmal habe ich sogar ...« Urplötzlich krampfte sich sein Magen zusammen, als alle Synapsen auf Panikmodus schalteten.
Sie sind hier! Wild schaute er sich im Raum um, wie eine Mutter in einem Einkaufszentrum, die gerade entdeckt hat, dass ihr zweijähriges Kind verschwunden ist.
»Was ist denn los?«, fragte Reeds Stimme wie von fern.
Erneut ging der Alarm in ihm los. Er musste es auskundschaften – oder sich verstecken.
»Äh, Reed?« Er versuchte sich zu beruhigen, rang sich ein Lächeln ab und hoffte, sie würde nicht merken, wie durcheinander er war. »Kann ich dir, äh, etwas von der Bar mitbringen?«
Reed lehnte sich entspannt zurück. »Sehr gern, aber ich weiß nicht genau, was ich
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