Prophezeiung
geworden war ihm das spätestens auf der Fahrt durch die Harburger Innenstadt, zu Thomas’ Wohnung in einem Hinterhofmietshaus im Phoenix-Viertel, hinter der alten Gummifabrik. Eine ganze Reihe von Schaufenstern entlang der Bremer Straße war zu Bruch gegangen, und an verschiedenen Stellen der Fußgängerzone sah man noch immer Spuren der Verwüstungen, die offenbar in der Nacht zuvor entstanden waren. Edward war nicht Pessimist genug, um nun deswegen gleich alle Hoffnung fahren zu lassen, aber die Krisensituation kehrte eindeutig nicht bei allen seinen Mitmenschen die besseren Seiten hervor. Und der Hamburger Vorort Harburg mit seinen über 200 000 Einwohnern war schon unter normalen Umständen kein Viertel, in dem man nachts freiwillig durch die Straßen flanierte.
Er hatte sein Auto bei Thomas stehen lassen, dessen Frau und zehnjährige Tochter kurz begrüßt und sich dann vom Freund rasch aus der Wohnung drängeln lassen. Frau und Tochter sahen nicht besonders begeistert aus, dass der Mann und Vater sie allein ließ, um Edward zu helfen, aber Thomas schien das nicht zu kümmern. Er erklärte Edward beim Besteigen seines alten Mitsubishi-SUV , es bestehe kein Grund zur Sorge. In den Nachbarwohnungen lebten Freunde, die meisten mindestens so groß und so kräftig wie er selbst, alle hätten gut gefüllte Tiefkühltruhen und Werkzeug, das man hervorragend zu Waffen umfunktionieren konnte, und die restliche Nachbarschaft, überwiegend Türken, sei weit weniger schlimm, als man gemeinhin behaupte. Im Gegensatz zu den deutschen Anwohnern hätten die Türken nämlich wenigstens Familiensinn, und der umfasste in dieser Situation durchaus auch die Menschen, die man täglich sah, also die Nachbarn.
Aber natürlich seien auch junge Türken dabei gewesen, in der Nacht, in der Fußgängerzone, in den Kaufhäusern. Seite an Seite, wenn auch nicht vereint, mit einer bunt gemischten und sehr internationalen Horde Nichtsnutze, die auch unter normalen Umständen schon nichts Besseres zu tun hatten, als ihr Vorstrafenregister aufzupolieren und anderen die Fresse. Der Stromausfall hatte sie regelrecht elektrisiert, zumal ja ihre Playstations und X-Boxen nicht mehr funktionierten und das Internet schon gar nicht. So hatten sie sich draußen umgesehen. Und Thomas hatte gelacht, als er von ihren Hauptzielen berichtete: Media Markt und Saturn. Es würde demnächst einen Haufen sehr günstige 3-D-Flachbildschirme zu kaufen geben, auf dem Schwarzmarkt. Also genau das, was man auf dem kommenden Schwarzmarkt garantiert nicht mehr loswurde.
Was Edward aber vor allem falsch eingeschätzt hatte, war die Verkehrslage. Thomas’ Boot, ein angeschlagener Kajütkreuzer aus den Siebzigern, mit dem er gewohnheitsmäßig an den Wochenenden die Elbe hinauftuckerte, lag im Harburger Hafen in unmittelbarer Nähe des Beach Club, eines in diesem prekären Stadtteil einigermaßen deplatziert wirkenden Sandareals, das jene Snobs anlocken sollte, die es in Harburg gar nicht gab. Edward war davon ausgegangen, sie könnten mit dem Wagen wenigstens bis in die Nähe des Anlegers fahren, er könne seine Taschen umladen und aufbrechen, aber das erwies sich als Trugschluss.
Der gesamte Harburger Hafen war großräumig abgesperrt, von der Seehafenbrücke an, die die Innenstadt mit dem tiefer liegenden Gewerbegebiet verband. Von dort, wo die Sperren sie stoppten, bis zum Boot waren es nicht bloß ein paar Hundert Meter, sondern fast drei Kilometer, und so musste Edward seinen Zodiac, das Schlauchboot, das er eigentlich erst an seinem Ankerpunkt in der Elbe hatte einsetzen wollen, für den Weg zum Falkensteiner Ufer und in den möglicherweise überschwemmten Vorgarten der Familie von Schenck, bereits am unteren Ende der Seehafenbrücke mittels mehrerer Druckluftpatronen in Form bringen. Was ihm nicht gefiel. Zum einen, weil das nicht der Plan gewesen war, zum anderen, weil er das Boot nun durch die überschwemmtenStraßen zur Anlegestelle würde steuern müssen und nicht wusste, wer oder was ihn auf dem Weg erwartete. Und weil ihm die Vorstellung missfiel, beim Paddeln überrascht zu werden und nicht mehr rechtzeitig seine Waffe aus dem Rucksack ziehen zu können. Er konnte sie ja schlecht die ganze Zeit in der Hand halten, beim Paddeln.
Thomas half ihm aus der Klemme.
Im strömenden Regen legte er seinem Freund die Pranke auf die Schulter, sagte: »Mann, du machst aber auch Sachen«, lachte und stieg mit Edward in das Boot. Er warf seinem oben auf der Brücke
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