Prophezeiung
seine Tochter weiterhin nicht erreichte. Außerdem hatte er recht, was Mavies eigene Sorgen betraf. Selbst die Bestätigung, dass im Gaia-Camp etwas Unvorhergesehenes passiert war, hätte ihr nicht das Geringste genützt. Sie konnte nichts tun, nichts ändern. Weder konnte sie sich zurück nach Genf teleportieren, um Milett von der Vulkansprengung abzuhalten, noch nach Mecklenburg, um Thilo zu retten, zu helfen oder zu verarzten. Was sie tun konnte, war erschreckend wenig. Sie konnte lediglich Philipp unterstützen, seine kleine Welt zu retten, denn der Rest der Welt befand sich eindeutig außerhalb ihrer Reichweite.
Was Thilo betraf, konnte sie nur hoffen, dass Philipp recht behielte; dass sie sich geirrt hatte.
Und warum sollte sie sich nicht zur Abwechslung mal hilfreich irren? Nachdem sie sich die ganze Zeit so fatal geirrt hatte.
Ihr Blick fiel auf das Paket auf den zwei Sitzen vor ihr und Philipp, das dessen »Kriegsgewinnler« Slatko mitgeliefert hatte, zusammen mit den sagenhaft teuren Tickets für die dröhnende Propellermaschine, ihr Wasserflugzeug. Ein Revolver, ein Schnellfeuergewehr, ein Schlauchboot mit Paddeln und Druckluftkartuschen, ein riesiger Seesack, gefüllt mit diversen Utensilien – Funkgeräten, Taschenlampe, Leuchtkugeln, Anglerhosen, Gummistiefeln.
Alles, was sie zur Durchführung ihres simplen Plans brauchten. Auf dem Fluss landen, so nah wie möglich am Falkensteiner Ufer, das Schlauchboot zu Wasser lassen, an Philipps Villa heranfahren, je nach Wasserstand bis auf die Terrasse oder unter die Schlafzimmerfenster im ersten Stock, die Eingeschlossenen an Bord nehmen, erst die Kinder, dann Karla sowie Mavies Vater, falls der bereits das Ziel erreicht hatte, alle Geretteten auf den insgesamtneun Sitzen der Cessna anschnallen, die Maschine wieder starten, abheben und zurück nach Hannover fliegen, um von dort aus gemeinsam den weiteren Weg für die kommenden Tage und Wochen zu planen – südwärts.
Ganz einfach.
Der Rest würde sich ebenfalls auf dem Weg ergeben. Edward meldete sich garantiert direkt nach ihrer Landung bei ihnen. Thilo hätte das Video, das Eisele entlarvte und vernichtete, zu diesem Zeitpunkt längst ins Netz gestellt. Milett hätte es längst gesehen, ebenso wie der Rest der Welt, darunter alle Entscheidungsträger. Milett würde sie anrufen und sich entschuldigen und hätte längst Abstand von seinem irren Plan genommen, und während sie telefonierten, würde Eisele in Handschellen seiner gerechten Strafe zugeführt werden.
Seiner gerechten Strafe.
Eine innere Stimme tönte Mavie hartnäckig in all die optimistischen Szenarien. Eine Stimme, die so dämlich, albern, jung und naiv klang, dass Mavie sie ums Verrecken nicht hören wollte.
Er hat das alles aus Liebe getan.
Nein, brüllte sie die Romantikerin in ihrem Kopf nieder. Hat er nicht. Kehr zurück zu deinen Pferdepostern und kämm deine Puppen. Geld und Macht, das waren seine Motive. Nicht Liebe.
Liebe! Leidenschaft! Er würde ganz China umbringen, um den Mord an seiner Geliebten zu sühnen! Was für ein Mann !
Sie teilte ihrer inneren Stimme mehrfach mit, sie solle den Mund halten, aber es dauerte eine Weile, bis sie das vor sich hin schmelzende Mädchen wieder in den Griff bekam.
Ganz gleich, welche Motive Eisele haben mochte. Ganz gleich, was er verloren hatte, nichts rechtfertigte sein Verhalten. Nichts rechtfertigte Morde, schon gar nicht den Mord an Helen.
Er hat dich nicht umbringen lassen. Er hat dich immer geliebt. Er hat dich nicht angerührt, obwohl du dich ihm angeboten hast. Er wollte dich erheben, dich auf Augenhöhe an seiner Seite wissen. Die schreckliche Wunde, die sie in sein Herz gerissen hatten – du hättest sie heilen können, heilen sollen! Warum hast du nichts begriffen? Warum hast du so vollständig versagt! All das wäre nicht geschehen, hättest du irgendwann mal irgendwas rechtzeitig kapiert, du dumme, dumme Person! Du hättest ihn heilen können! All das wäre nicht geschehen!
Sie krümmte sich leicht zusammen und hielt sich die Ohren zu, aber da die Stimme von innen kam, nützte das natürlich nichts. Es bewirkte lediglich, dass Philipp sie ernst und erstaunt ansah.
»Druck?«, rief er verwundert durch den Lärm in der Maschine.
»Kann man so sagen!«, rief sie zurück.
»Ist gleich vorbei!«
Sie sah ihn verwundert an. Er deutete aus dem Fenster, mit dem ausgestreckten Zeigefinger, nach unten.
Mavie sah aus ihrem Fenster, durch den Regen und die grau in grau
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