Prosecco um Mitternacht
sich in dieser Wohnung wie eine Fremde fühlte, und das war nicht gut, ganz gleich, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete.
Da die Nachmittagssonne auf die andere Seite des Gebäudes gewandert war, musste sie das Deckenlicht in der Küche einschalten. In dem Moment, als sie es tat, entdeckte sie, dass etwas fehlte.
Der Küchentisch war leer bis auf eine Schale mit Früchten, die dort stand, wo vorher ihre Notizen gelegen hatten.
Renaes Herz pochte.
Sie lief zum Tisch, sah auf den Stühlen nach und zog die Schublade auf, aus der sie den Block und den Stift genommen hatte. Block und Stift waren da, ordentlich weggeräumt, als hätte sie sie nie benutzt. Auf dem Block war nicht einmal die Schrift ihrer Notizen durchgedrückt.
“Nina?”, rief sie.
Während sie im Mülleimer nachsah, in dem sich die leere Orangensaftpackung von heute Morgen und Butterpapier befand, lauschte sie auf die Stille in der Wohnung.
Sie schloss die Schublade wieder. Das konnte doch einfach nicht wahr sein.
Nachdem sie auch alle anderen Räume abgesucht hatte, blieb sie vor Tabithas und Ninas Tür stehen. Bisher war sie nie in Tabithas Privatbereich eingedrungen. Wenn die Tür abends offen stand und Tabitha sie einlud, ging sie natürlich hinein. Dann lagen sie zusammen auf dem Bett und sahen sich irgendwelche Fernsehserien an. Allerdings war das gewesen, bevor Nina eingezogen war.
Danach hatte Renae es kaum noch gewagt, ins Zimmer zu schauen, aus Furcht vor dem, was sie vorfinden könnte. Eine berechtigte Furcht, da Nina eine Vorliebe dafür hatte, nackt durch die Wohnung zu laufen. Sich mit seinem Körper wohl zu fühlen, war eine Sache. Ein Exhibitionist zu sein, eine andere. Und Nina fiel eindeutig in die zweite Kategorie.
Jetzt konnte Renae den vielen Bezeichnungen, die sie für Nina hatte, noch eine weitere hinzufügen: Diebin.
Sie ging an Tabithas Zimmer vorbei und wieder zurück in die Küche, wo sie Stift und Block aus der Schublade nahm. Dann ging sie in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und nahm sich vor, von jetzt an sorgsamer darauf zu achten, wo sie ihre Sachen hinlegte.
Zwei Tage später saß Renae Lucky im Coney Island Hot Dog on North Superior gegenüber – dem ältesten Lokal in der Innenstadt von Toledo, wenn man den Worten auf dem Fenster glauben wollte – und stocherte in ihrem Essen herum, während sie in Gedanken weit weg war. Seit dem Telefonzwischenfall in seiner Wohnung hatte sie Will nicht mehr gesehen. Was höchstwahrscheinlich sehr viel damit zu tun hatte, dass sie sich alle Mühe gab, ihm nicht zu begegnen. Und er verhielt sich genauso. Denn solange sie sich nicht über den Weg liefen, würde es auch keine peinlichen Momente geben. Das war eben der Nachteil, wenn man sich mit jemandem aus dem gleichen Haus einließ.
“Du bist sehr still heute”, bemerkte Lucky, deren Appetit offensichtlich so gesund wie eh und je war, als sie mit Genuss in ihren Hot Dog biss.
Renae hatte vor einer Stunde etwas an Luckys erblühendes Geschäft geliefert, und nachdem sie eine Weile ihre Bestände durchgegangen waren, hatte Lucky vorgeschlagen, in dem beliebten Imbiss, der sich interessanterweise direkt neben dem vornehmsten Restaurant von Toledo befand, zusammen zu Mittag zu essen.
“Er ist Georgio’s, und ich bin Coney Island.”
Lucky stutzte und fragte mit vollem Mund: “Was?”
Renae hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Sie winkte ab, nahm ihren eigenen Hot Dog und biss davon ab. “Will und ich”, erklärte sie kauend. “Er ist Georgio’s, und ich bin diese Imbissbude.”
Lucky verschluckte sich fast vor Lachen und griff nach ihrem Mineralwasser. “Du bist doch keine Imbissbude.”
“Doch. Ich bin eine Schulabbrecherin, die nicht mal einen Gedanken daran verschwendet hat, ihren Abschluss zu machen, geschweige denn aufs College zu gehen.”
“Und deswegen glaubst du, dein Niveau entspräche einer Imbissbude?”
“Allerdings.” Renae deutete mit dem Daumen zu der Wand, die die beiden Lokale voneinander trennte. “Und Will ist das Gourmet-Restaurant nebenan.”
“Wie kommst du auf so etwas?”
Renae verdrehte die Augen. “Komm schon, Lucky. Das brauche ich dir doch wohl nicht zu erklären.”
“Sei nachsichtig mit mir.”
“Na schön. Will ist ein vornehmes Restaurant, weil er die Highschool und ein Medizinstudium absolviert hat und weil er jetzt ein verdammter Arzt ist, ein Chirurg sogar!”
Lucky aß unbeirrt ihren Hot Dog weiter, als
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