Prosecco um Mitternacht
Weile stand er einfach nur da und ignorierte es, da er keine Lust hatte auf ein Gespräch mit Janet, falls sie es zufällig war. Doch der Anrufer war beharrlich, und irgendwo um das zwanzigste Klingeln herum ging er ins Esszimmer und nahm den Hörer des Nebenanschlusses ab.
“Willem?”
Mit Erleichterung erkannte er die Stimme seiner Mutter. Obwohl sein Name William war, ließ sie stets einen Vokal aus und änderte den anderen.
“Hallo, Mom”, begrüßte er sie und verfiel sofort wieder in seinen angeborenen Akzent. Normalerweise passte er sich den Sprachmustern seiner Umgebung an, wenn er in den Staaten war. “Wie geht es dir?”
“Bestens. Und dir?”
Will zögerte. Und bereute es augenblicklich. “Auch gut. Es könnte nicht besser sein.” Verflixt, mit dieser Übertreibung machte er alles nur noch schlimmer.
“Das ist interessant. Denn deinem Ton nach zu urteilen, geht es dir alles andere als gut. Komm schon. Sei lieb und erzähl deiner alten Mom, was in deinem Leben so alles passiert.”
Dorothy Sexton hatte fünf Kinder, von denen er das einzige war, das England verlassen hatte. Seine Geschwister waren nicht nur in der Nähe ihres Elternhauses geblieben, sie hatten inzwischen auch eigene Familien, selbst seine jüngste Schwester Nancy, die letztes Jahr geheiratet hatte und jetzt ihr erstes Kind erwartete.
“Nicht viel. Immer das Gleiche, um ehrlich zu sein. Hat Nancy schon ihr Kind bekommen?”
“Nancy ist so dick wie ein Sofa und fühlt sich auch genauso. Und versuch nicht, das Thema zu wechseln.”
Will setzte sich lächelnd an den Küchentisch. Obwohl ein Ozean sie trennte und es auf seiner Uhr zwei Uhr nachmittags war, während es in London schon sieben sein musste, klang ihre Stimme so deutlich, als wäre sie nebenan. “Es ist nichts, wirklich. Es sind nur ein paar Sachen bei der Arbeit passiert.”
“Der Doktor in der Familie hat Probleme, oder?”
Zwei seiner Geschwister hatten ebenfalls studiert, aber er war der Einzige, der es so weit gebracht hatte, hauptsächlich dank Stipendien und eines enormen Studiendarlehens, das er gerade erst vor einem Jahr abbezahlt hatte. Normalerweise war er stolz auf das, was er erreicht hatte, doch brauchte es nur ein paar Worte seiner Mutter, um ihn an seine Herkunft und seine Familie zu erinnern, und daran, dass er für sie immer der Junge aus Southwark sein würde.
“Ich habe es schon so lange auf diese Beförderung abgesehen, und ich habe einfach Angst, dass ich sie nie bekomme.”
Er würde nicht weiter ausführen, wieso. Die ganze Janet-Renae-Angelegenheit würde seine Mutter nur durcheinanderbringen, und halb fürchtete er, dass sie sich in das nächste Flugzeug setzen würde, sollte sie der Ansicht sein, eine der Frauen tauge zur Ehefrau. Was höchst seltsam wäre, weil noch keiner aus seiner Familie ihn besucht hatte. Für seine Geschwister befand er sich auf der anderen Seite der Welt, nicht bloß eine fünfstündige Flugreise entfernt.
Andererseits flog er auch nur einmal im Jahr für ein oder zwei Wochen nach Hause. Aus irgendeinem Grund machte ihn dieser Gedanke plötzlich traurig.
“Kopf hoch, mein Junge. Wenn es eines gibt, was ich auf dieser Welt mit Sicherheit weiß, dann dass mein Willem kriegt, was er will.”
Er grinste über diesen vertrauten Spruch, der manchmal in Wut, oft aber mit Stolz gesagt wurde.
“Danke, Mom. Ich glaube, das musste ich mal hören. Und jetzt verrate mir, was es bei dir heute zum Abendessen gibt.”
“Es ist Freitag, also essen wir natürlich Shepherds Pie. Das Lieblingsgericht deines Dads.”
Will schloss die Augen und stellte sich die kleine Küche der Sextons vor, mit dem Resopaltisch und den Stühlen mit den roten Kunststoffbezügen, in der es nach Lamm und Kartoffelbrei duftete. Jetzt wären natürlich nur seine Mom und sein Dad da, weil die Kinder alle längst aus dem Haus waren. Aber an zwei Sonntagen im Monat kam die ganze Familie in der engen Wohnung zusammen, um Roastbeef, Yorkshire Pudding und Kartoffeln und Gemüse zu essen.
Zum ersten Mal in seinen Jahren in Amerika hatte er echtes Heimweh.
“Wenn ich mich recht erinnere, war Shepherds Pie auch dein Lieblingsessen”, meinte seine Mutter. “Aber wahrscheinlich hat sich das geändert, und du isst jetzt lieber Hamburger.”
“Im Gegenteil, ich esse fast jeden zweiten Tag
fish ‘n’ chips”
, versicherte er prompt. “Außerdem mache ich mir hin und wieder einen Eintopf.”
In diesem Stil ging es weiter – seine Mutter zog
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