Prosecco um Mitternacht
Straßenecke, weil sie, wie sie sagte, stets jünger ausgesehen hätte, als sie war – was schlecht war für jemanden, der eigentlich älter auszusehen versuchte.
Jetzt, in ihren Fünfzigern, ging die attraktive Brünette leicht als Vierzigjährige durch. Ihre helle Haut war glatt, die dunklen Augen klar und freundlich, trotz der harten Jahre, die sie hinter sich hatte.
Renae wusste, es war kein Zufall, dass beinah jeder, der bei Women Only landete, eine schwere Kindheit hinter sich und die Schattenseiten des Lebens am eigenen Leib erfahren hatte. Es gab eine Art von Narben, die das Leben einem zufügte, die nur von jemandem gesehen werden konnten, der die gleiche Erfahrung gemacht hatte. Da war eine Verbundenheit, die automatisch die Frauen zusammenführte, die das gleiche Schicksal teilten. Bei Lucky hatte Renae es sofort gesehen, als sie sich vor einigen Monaten kennenlernten. Und Ginger hatte es bei Renae erkannt.
Und das unterschied sie von den anderen, die mit Verwundungen lebten. Als Ginger Renae die Hand gereicht hatte, hatte sie damit etwas in Gang gesetzt, das sich immer weiter ausbreitete. Man musste sich nur staunend Luckys Arbeit in einem Frauenhaus anschauen, um das zu verstehen.
Ginger beendete das Telefongespräch und klappte ihr Handy zu.
Renae legte die Speisekarte hin, die sie ohnehin nicht gelesen hatte, und sah Ginger lächelnd an. “Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Das letzte Bewerbungsgespräch dauerte länger als geplant.”
Ginger winkte ab. “Hast du sie eingestellt?”
“Leider nein.” Renae dankte der Kellnerin, die ihr ein Glas Wasser brachte. “Sie konnte nicht zu den Zeiten arbeiten, wenn wir sie benötigen.”
“Tut mir leid, das zu hören.”
Renae war dankbar, dass Ginger ihre Entscheidungen niemals infrage stellte. Ginger mochte zwar ihre Zweifel haben – so wie vermutlich jetzt, weil Renae so lange brauchte, um die Stelle neu zu besetzen –, trotzdem lächelte sie, zum Zeichen, dass sie Vertrauen in Renae hatte.
“Was wolltest du mit mir besprechen?”, fragte Ginger.
Renaes Zunge schien ihr plötzlich am Gaumen zu kleben. Fast hätte sie vor Erleichterung aufgeatmet, als die Kellnerin an ihren Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Sie bestellten beide Salate, und ehe Renae sich versah, waren sie wieder allein.
“Ich habe auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um mit dir darüber zu sprechen, aber der schien irgendwie nie zu kommen.” Renae wusste, dass sie plapperte, aber sie konnte nichts dagegen tun, denn es bedeutete ihr so viel. Wenn Ginger ihr Vorschlag nicht gefiel und sie ihn ablehnte, wusste sie nicht, was sie tun sollte.
“Du willst Women Only doch nicht verlassen, oder?”, fragte Ginger rundheraus, und die Besorgnis war ihr deutlich anzusehen.
Renae lachte so laut, dass ihr beinah die Tränen kamen. Die verwirrte Miene ihrer Freundin ließ sie abrupt innehalten. “Wohl kaum.”
“Gut. Denn ohne dich könnte ich Women Only nicht leiten.”
Renae sah Ginger an. Das war gut, oder? Falls Ginger sie wirklich für einen so wichtigen Teil des Unternehmens hielt, sollte sie nichts gegen eine Partnerschaft haben.
“Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber ich war in letzter Zeit nicht ganz bei der Sache”, gestand Ginger.
Renae war überrascht von diesem Geständnis.
“Na ja, ich habe da jemanden kennengelernt.”
Renae horchte auf. “Tatsächlich? Wen, wann, wo?”
Ginger lächelte und wedelte mit der Hand, wodurch die dünnen Goldreifen, die sie stets trug, ihren schmalen Unterarm hinaufrutschten. “Das ist doch egal.”
“Ist es nicht! Wenn es etwas Ernstes ist mit diesem Mann, dann ist es ganz und gar nicht egal.”
Ginger räusperte sich. “Eigentlich wollte ich damit sagen, es spielt keine Rolle, dass er nicht von hier, aus Toledo, ist. Er lebt in Arizona, und dort habe ich in den letzten Wochen viel Zeit verbracht.”
Renae fand es sehr eigenartig, dass sie erst jetzt mitbekam, dass Ginger nicht nur mit anderen Dingen fernab von Women Only beschäftigt gewesen war, sondern sich gar nicht in der Stadt aufgehalten hatte. Wenn man sich ständig in einem weit entfernten Bundesstaat aufhielt, war es natürlich schwierig, in den Filialen vorbeizuschauen.
Die Salate wurden gebracht, und Renae ergriff die Gelegenheit, über das nachzudenken, was Ginger ihr gerade erzählt hatte. Sie hatte einen Mann kennengelernt, und er lebte in Arizona, und offenbar war es nicht leicht für ihn, nach Toledo zu kommen, weshalb Ginger zu
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