Prosecco um Mitternacht
der sie miteinander schliefen, nie danach gefragt hatte?
Wo auch immer sie arbeitete, sie hatte erst nach neun Feierabend. Und er war nicht in der Verfassung, so lange zu warten. Sein Kopf schwirrte von all den Dingen, die er ihr sagen wollte. Und von den Dingen, die er über sie wissen wollte. Diese Fragen waren schon die ganze Zeit da gewesen, aber irgendwie von dem verdrängt worden, was er als die größeren Probleme in seinem Leben betrachtet hatte. Wozu nicht zuletzt das Kündigungsschreiben gehörte, das hinter ihm auf dem Esstisch lag.
Nach dem katastrophalen Abendessen gestern war ihm klar, dass er im Krankenhaus keine Zukunft mehr hatte. Das Medical College of Ohio wollte ihn schon seit Jahren. Zwar würde man ihm dort nicht annähernd so viel bezahlen wie in der Privatklinik, in der er die letzten sechs Jahre gearbeitet hatte, aber dafür würde er auch nicht mit der Tochter des Chefarztes schlafen müssen, um befördert zu werden.
Natürlich hatten derartige Absichten nicht hinter seiner Beziehung zu Janet gestanden. Dass es sich in diese Richtung entwickelt hatte und er nur deshalb Dr. Nealon auf sich aufmerksam gemacht hatte, weil er mit Janet zusammen war, gehörte einfach zur unglücklichen Entwicklung der Dinge.
Ohne die Beförderung blieb ihm noch auf unbestimmte Zeit die Nachtschicht. Und gerade jetzt gab es etwas, womit er seine Nächte viel lieber verbringen würde, nämlich mit leidenschaftlichem, wunderbarem Sex mit Renae Truesdale.
Die bloße Vorstellung, sie wiederzusehen und sie in seinem Bett zu haben, trieb ihn dazu, sofort zu handeln. Er lief durch den Flur, riss die Wohnungstür auf, rannte die Treppe in den nächsten Stock hinauf und klopfte an die Tür von 3B. Er wollte gerade erneut klopfen, als die neue Mitbewohnerin – Nina, wie Renae erzählt hatte – öffnete und ihn finster anstarrte.
“Was wollen Sie?”
Nach allem, was Will durchgemacht hatte, war ihr Benehmen nur ein geringes Ärgernis. “Ich möchte zu Renae.”
“Die wohnt hier nicht mehr.”
Moment mal. Was war denn jetzt los? “Ich verstehe. Und wann ist sie ausgezogen?”
“Gestern.”
Sie wollte die Tür zumachen, doch Will stemmte die Hand dagegen. Nina machte ein Gesicht, als hätte sie liebend gern seine Finger eingeklemmt, wenn sie die Kraft dazu besessen hätte. “Wie lautet ihre neue Adresse?”
“Sie hat keine.”
Will drückte fester gegen die Tür, damit sie ihm nicht vor der Nase zugeschlagen wurde. “Können Sie mir vielleicht sagen, wo sie arbeitet?”
“Ich habe keine Ahnung. Und wenn Sie jetzt nicht sofort die Tür loslassen, rufe ich die Polizei.”
“Na, das wollen wir doch nicht, oder? Denn dann müssten Sie ja deren Fragen beantworten.”
Nina funkelte ihn zornig an.
Plötzlich dämmerte es ihm. Er wusste, wo Renae arbeitete. Lucky war ihre Kollegin. So hatten die beiden Frauen sich kennengelernt. Wie hatte er das vergessen können? Colin hatte doch ständig davon erzählt, dass Lucky eine Filiale aufmachte. Eine Filiale des Ladens, in dem Renae arbeitete.
Er ließ die Tür los und sagte: “Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.”
Die Tür wurde so heftig zugeknallt, dass die Scharniere wackelten.
Will schüttelte den Kopf, zog sein Handy aus der Tasche und tippte Colins Nummer ein, während er zurück in seine Wohnung lief.
“Wo arbeitet Lucky?”, fragte er seinen Freund ohne Einleitung.
“Oh, ich habe mich schon gefragt, wann ich von dir hören werde.”
“Was soll das heißen?”
“Oh, ich weiß nicht. Nur dass eine gewisse Person die letzten Nächte auf der Couch meiner Freundin verbracht hat. Jetzt sag nicht, du hast so lange gebraucht, um zu merken, dass sie fort ist?”
“Schon gut, schon gut.”
Colin lachte. “Der Laden heißt Women Only. Aber welche Adresse willst du? Die von dem Laden, den Lucky in der Innenstadt eröffnet? Oder die der Hauptstelle?”, fragte er in gespielt naivem Ton.
Will verkniff sich die grobe Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.
Sein Freund verriet ihm schließlich die Adresse des Hauptgeschäfts.
“Allerdings würde ich nichts überstürzen, mein Freund. Sie macht gerade …”
Will beendete das Gespräch und bedankte sich nicht einmal. Er wusste, wo der Laden war – weil er und seine College-Freunde, einschließlich Colin, früher die umliegenden Striplokale besucht hatten. Es kam ihm wie Ironie des Schicksals vor, dass er jetzt in der gleichen Gegend die Frau suchte, die er heiraten wollte.
Heiraten
Weitere Kostenlose Bücher