P.S. Ich liebe Dich
einfach an ihr vorüberzuziehen, ohne dass sie richtig mitkriegte, wie spät, oder auch nur, welcher Tag es war. Es war, als lebte sie außerhalb ihres Körpers, als wäre sie betäubt, aber sich dennoch ständig des Schmerzes in ihrem Herzen, ihren Knochen, ihrem Kopf bewusst. Und sie war so müde … Ihr Magen grummelte, und ihr fiel ein, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
Schließlich stand sie auf und schlurfte in Gerrys Bademantel und ihren Lieblingshausschuhen – den pinkfarbenen »Disco-Diva«-Slippern, die Gerry ihr letzte Weihnachten geschenkt hatte – in die Küche. Er hatte immer gesagt, sie sei seine kleine Disco-Diva. Immer als Erste auf der Tanzfläche und als Letzte wieder runter. Wo war diese Holly geblieben?
Holly öffnete den Kühlschrank und starrte in die leeren Fächer. Ein schrecklicher Gestank schlug ihr entgegen: Vergammeltes Gemüse und Joghurts, die längst abgelaufen waren. Nichts Essbares in Sicht. Sie musste lächeln, als sie die Milchpackung schüttelte. Auch die war leer. Der dritte Punkt auf Gerrys Liste …
Vor zwei Jahren war Holly kurz vor Weihnachten mit Sharon losgezogen, um sich ein Kleid für den jährlichen Ball im Burlington Hotel zu kaufen. Mit Sharon shoppen zu gehen war immer eine riskante Unternehmung, und John und Gerry machten immer Witze darüber, dass sie an Weihnachten bestimmt leer ausgehen würden, weil ihre Frauen das ganze Geld auf ihren Einkaufstouren für sich selbst verschleuderten. So ganz Unrecht hatten sie damit nicht. »Unsere armen vernachlässigten Ehemänner«, so nannten Holly und Sharon sie dann immer.
Diesmal gab Holly bei Brown Thomas einen horrenden Betrag für das schönste weiße Kleid aus, das sie je gesehen hatte. »Scheiße, Sharon, das reißt mir ein Riesenloch ins Budget«, sagte Holly schuldbewusst und biss sich auf die Unterlippe, während sie die Finger über den weichen Stoff gleiten ließ.
»Ach was, Gerry stopft das schon wieder«, entgegnete Sharon mit ihrem infamen Kichern. »Und hör auf, mich ›Scheiße-Sharon‹ zu nennen. Das machst du jedes Mal beim Shoppen, und wenn du nicht aufpasst, bin ich irgendwann beleidigt. Schließlich ist bald Weihnachten, das Fest der Liebe und so weiter.«
»Gott, du hast echt einen schlechten Einfluss auf mich, Sharon. Eigentlich sollte ich nie wieder mit dir einkaufen gehen. Das Kleid hier kostet mich ungefähr mein halbes Monatsgehalt. Wovon soll ich den Rest des Monats leben?«
»Holly, was ist wichtiger: essen oder toll aussehen?«
»Ich nehme das Kleid«, sagte Holly aufgeregt zu der Verkäuferin.
Das Kleid war weit ausgeschnitten, was Hollys hübsche kleine Brüste gut zur Geltung brachte, und bis zum Oberschenkel geschlitzt, sodass man ihre schlanken Beine sah. Gerry konnte die Augen nicht von ihr lassen. Aber nicht, weil sie so schön aussah, sondern weil er einfach nicht verstand, wie so ein Stückchen Stoff dermaßen teuer sein konnte. Doch beim Ball übertrieb Ms. Disco-Diva es mal wieder mit dem Alkohol und ruinierte ihr Kleid, indem sie Rotwein draufschüttete. Sie schaffte es nicht, die Tränen zurückzuhalten, während die Männer am Tisch sie – ebenfalls mehr als leicht angesäuselt – darüber informierten, dass Punkt vierundfünfzig der Liste ausdrücklich verbot, Rotwein zu trinken, solange man ein teures weißes Kleid anhatte. Dann wurde beschlossen, dass Milch ein geeigneter Ersatz wäre, denn Milchflecke konnte man auf teuren weißen Kleidern nicht sehen.
Als Gerry später sein Bier umwarf und es über die Tischkante auf Hollys Schoß tröpfelte, verkündete sie unter Tränen, aber sehr ernsthaft ihren Freunden und auch einigen Nebentischen: »Regel fümmunfünfssig der Liste: newwer ewwer teure weiße Kleider kaufn!« Die Regel fand allgemeine Zustimmung, und Sharon erwachte aus ihrem Koma irgendwo unter dem Tisch, um Hollys bahnbrechendem Tipp zu applaudieren und ihr uneingeschränkte moralische Unterstützung zuzusichern. So wurde (nachdem der Kellner ein Tablett voller Milchgläser angeschleppt hatte) ein Toast auf Holly und ihren neuesten wichtigen Beitrag zur Liste ausgebracht. »Iss echt schaade wegen deinem teuern weißen Kleid, Holly«, hickste John noch, ehe er aus dem Taxi fiel und Sharon neben sich her zu ihrem Haus schleifte.
Konnte es sein, dass Gerry Wort gehalten und ihr vor seinem Tod eine Liste geschrieben hatte? Aber sie hatte doch jede Minute mit ihm verbracht. Er hatte nichts davon erwähnt,
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