Psychopath
könnte ein Naturliebhaber sein – ein Jäger oder Wanderer oder Camper.« Sie sah auf die beleuchtete Landkarte, dann wieder zu Clevenger. »Die Sache, die keinen Sinn ergibt, ist, dass er die Grenzen zwischen einem planenden Täter und einem nicht planenden Täter verwischt.«
»›Verwischt‹ ist gut«, bemerkte Bob White. »Er reißt sie nieder.«
Clevenger kannte die Unterscheidung, auf die sich Campbell und White bezogen. Ein »planender« Serienmörder plante seine Verbrechen zumeist im Voraus, machte Jagd auf Fremde, verlangte Unterwerfung von seinen Opfern, fesselte sie, bevor er sie tötete, und tötete sie auf grausamste Weise. Ein »nicht planender« Mörder hingegen schlug bedeutend spontaner zu, fiel explosionsartig über Menschen her, die er kannte, sprach nur wenig mit ihnen, benutzte keine Fesseln, hatteoftmals Sex mit den Leichen seiner Opfer und ließ gemeinhin an jedem Tatort eine Waffe zurück.
»Das hier ist jemand, der seine Morde nicht zu planen scheint«, sagte Campbell, »doch irgendwie lernt er seine Opfer kennen – oder verhält sich ihnen gegenüber so, als bestehe eine gewisse Intimität zwischen ihnen.«
»Er ist zerstört worden«, sagte Clevenger. »Er weiß, was sie durchmachen. Er fühlt ihren Schmerz.« Dieser Satz ließ Clevenger an Jesus Christus denken. »Er hält sich vermutlich für fromm oder glaubt, eine direkte Verbindung zu Gott zu haben, weit mehr als zum Teufel. Er denkt, dass er Gottes Werk vollbringt.«
McCormick nickte.
»Er lässt die Leichen mehr oder weniger achtlos liegen, so als sei er entsetzt darüber, was er getan hat«, sagte Campbell. »Andererseits will er ein Andenken an sie haben. Ein weiterer Widerspruch.«
»Kristallklar scheint nur zu sein, dass die Paradigmen, die wir in unserer Abteilung entwickelt haben, kein deutliches Bild von diesem Burschen abwerfen«, sagte Kane Warner zu Clevenger. »Ich schlage daher vor, dass Whitney Ihnen in den nächsten ein, zwei Tagen alles Wissenswerte über den Fall erzählt und Sie sich dann der Ermittlung anschließen, wobei Sie direkt mir unterstellt wären. Es ist wahrscheinlich das Beste, wenn Sie vorerst hier vor Ort bleiben?«
So viel zum Thema freie Entscheidung. Und Warners Tonfall erinnerte Clevenger noch an etwas anderes, vor dem North Anderson ihn gewarnt hatte. Das FBI würde ihm niemals freie Hand bei den Ermittlungen geben. Warner wollte Clevenger an der kurzen Leine halten. Das war es, was das ganze Sie-sind-direkt-mir-unterstellt-Geschwafel im Klartext bedeutete, von der Idee, dass er hier in einem der Wohnheime schlafen sollte, einmal ganz zu schweigen. Es schien Clevenger der passende Moment zu demonstrieren, dass er nicht gern Befehlen gehorchte. »Das Angebot haben Sie mir bereits vor zwei Tagen am Telefon gemacht«, sagte er. »Von Unterkunft und Verpflegung mal abgesehen. Aber ich bin noch immer nicht überzeugt, dass Sie nah daran sind, diesen Kerl zu schnappen.«
»Wie bitte?«, sagte Warner, ohne dass sein Politikerlächeln erlosch.
»Ich meine, Sie haben diese blinkende Landkarte und das alles, und diese Leute hier haben beeindruckende Arbeit am Computer und im Labor geleistet. Whitney liegt wahrscheinlich genau richtig, was einige der psychologischen Merkmale des Mörders angeht. Aber Sie studieren ihn aus der Distanz. Und dabei ist das ein Mann, den Sie vielleicht erreichen können – wenn Sie den Mut dazu haben.«
»Könnten Sie das etwas genauer erklären, Doktor?«, fragte Warner.
»Der Mörder kommt seinen Opfern nah, bevor er sie umbringt«, sagte Clevenger und sah die am Tisch versammelten Leute an. »Er vermittelt ihnen das Gefühl, es würde ihm etwas an ihnen liegen. Und das tut es auch, oder zumindest denkt er das. Für ihn besteht das Problem darin, dass er Intimität nur in kleinen Dosen zulassen kann. Deshalb bleibt er in Bewegung. Keine langfristigen Beziehungen. Was ihm großen Schmerz bereitet, wie es das bei jedem tun würde.«
»Wir wollen immer das, was wir nicht haben können«, bemerkte McCormick.
Clevenger sah sie an. »Immer«, bestätigte er. Langsam wandte er seinen Blick wieder Kane Warner zu. »Der Schlüssel, um diesem Burschen die Tour zu vermasseln, die Methode, ihn psychologisch stolpern zu lassen, besteht darin, ihm seine Opfer beständig unter die Nase zu reiben. Lassen Sie die Angehörigen aufmarschieren. Zeigen Sie in den Fernsehnachrichten Kinderbilder von den Opfern. Trommeln Sie die Hinterbliebenen jeden Monat zu einem Treffen irgendwo
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