Psychopath
Denn das Schlimmste, was Sie als Kind durchgemacht haben, bleibt weiterhin in Ihrem Unterbewusstsein verschlossen.
Welchem Trauma haben Sie sich bis jetzt nicht zu stellen gewagt, Gabriel? Welche verdrängte Wut ist explodiert, als Sie auf Paulette Bamberg trafen? Was war es an dieser alten Frau (einer Frau im Alter Ihrer Mutter?), das Sie völlig die Kontrolle über sich verlieren ließ, sodass es nicht mehr genügte, die letzten Momente eines sterbenden Menschen mitzuerleben, sondern notwendig wurde, so brutal zu töten? So bestialisch. Und warum haben Sie ihr kein Blut abgenommen? Würde es Sie vergiften, Paulette Bamberg in sich zu haben?
Oder bestand Paulette Bambergs einzige Sündedarin, dass Sie dem Highwaykiller gegenüber reserviert blieb, ihre Distanz wahrte und nie die außergewöhnliche und unmittelbare Intimität erlebte, die Sie, wie ich glaube, in anderen wachrufen, sodass sie ihre Herzen ausschütten, wie sie das nie zuvor getan haben; dass sie sich einem Fremden in einer Weise öffnen, die sie ihr Leben lang erinnern würden, fände ihr Leben nicht ein so jähes Ende?
Ich habe Sie nach den sterblichen Überresten aller Opfer des Highwaykillers gefragt. Sie haben mir eine Leiche gegeben, die anders als die übrigen war. Warum?
Ich bin überzeugt, die Antwort wird der Anfang vom Ende für den Highwaykiller sein.
Es klopfte an seiner Zimmertür. Clevenger sah auf die Uhr. Null Uhr fünfzig. »Wer ist da?«, rief er.
»Whitney«
Er ging zur Tür und öffnete sie. McCormick stand davor. Sie war barfuß und trug eine verwaschene Jeans und ein altes, graues FBI-Sweatshirt. In legerer Kleidung sah sie noch atemberaubender aus.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte er.
»Ich bin froh, dass wir zwei Zimmer genommen haben«, sagte sie.
»Okay ...«
»Aber ich denke nicht, dass wir beide benutzen sollten.«
Clevenger fasste sie bei der Hand, zog sie ins Zimmer und in seine Arme, dann drückte er sie sanft gegen die Tür, die sich schloss. Sie küssten sich leidenschaftlich, überließen sich ihren Lippen und Zungen, fachten gegenseitig ihren Hunger an. Dann stieß McCormick ihn ohne Vorwarnung und beinahe wütend weg. Sie grinste über seine Verblüffung, zog sich dasSweatshirt über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Sie war von der Taille aufwärts nackt. Er trat einen Schritt näher, streckte seine Hände aus, strich mit seinen Fingern sanft über ihre Brüste und sah, wie sich ihre Brustwarzen bei der Berührung aufrichteten. Dann sank er auf die Knie, öffnete den Hosenbund und den Reißverschluss ihrer Jeans und küsste ihren Bauch. »Ich wollte dich vom ersten Moment, als ich dich gesehen habe«, flüsterte er.
»Das könnte ein schlechtes Zeichen sein«, sagte sie, und ihre Worte erstarben, als Clevenger seine Hand zwischen ihre Schenkel schob.
»Könnte sein«, pflichtete er bei. Er stand auf, nahm sie auf seine Arme und trug sie zum Bett.
Sie liebten sich zuerst zärtlich, dann ungezügelt – zwei Menschen, die beständig am Abgrund lebten und sich für einen kostbaren Moment ineinander verloren und ihrer Leidenschaft und ihren Frustrationen und Hoffnungen und Bedürfnissen freien Lauf ließen, bis sie erschöpft waren und still nebeneinander lagen und einander in die Augen sahen.
»Du hattest viele Frauen«, sagte sie.
»Wie bitte?«, erwiderte er. »Ich hab dir gerade nicht zugehört.«
Sie lachte. »Leck mich«, sagte sie.
Dann liebten sie sich von neuem.
6. April 2004
Abreise aus Utah
Clevenger zeigte McCormick seinen vollendeten Brief, kurz bevor sie beide an Bord ihrer jeweiligen Flugzeuge gingen, ihres mit Abflugzeit zwölf Uhr fünfundzwanzig, seines mit Abflugzeit zwölf Uhr fünfzig. Sie schüttelte den Kopf. »Hör zu«, sagte sie. »Ich habe versprochen, hinter dir zu stehen,und das werde ich auch tun. Aber du willst ihm geradewegs an die Kehle gehen, und ich möchte, dass du dir das noch mal überlegst. Während er psychisch ausblutet, könnte er eine Menge fremdes Blut vergießen.«
»Früher oder später wird er sich seinen Dämonen stellen müssen«, sagte Clevenger. »Ich finde, es kann ebenso gut früher sein.«
Aus der Lautsprecheranlage tönte der letzte Aufruf für McCormicks Flug.
»Wenn er in seinem nächsten Brief negativ reagiert, überlegen wir uns eine andere Methode«, sagte sie.
»Abgemacht.«
Sie wandte sich zu ihrem Flugsteig um.
»Du wirst mir fehlen«, sagte Clevenger, abermals überrascht von seinen eigenen Worten.
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