Psychopath
zuständig ist. Ich habe ihm gesagt, ich würde ihm helfen.«
Benutzten sie Wallace als den »guten Cop«?, fragte Jonah sich. Dachten sie tatsächlich, er ließe sich so leicht übertölpeln und stimme zu, dass sein Hotelzimmer ohne Gerichtsbescheid durchsucht würde? »In welcher Weise?«, fragte er sie.
»Den Besitzer und die Angestellten der Raststätte hat diese Sache schwer mitgenommen«, sagte Wallace. »Das Opfer – Pierce hieß sie – war sehr beliebt. Ihre Tochter arbeitet ebenfalls als Bedienung dort. Die gesamte Belegschaft ist wie eine große Familie.« Sie machte eine Pause. »Normalerweise würde ich niemals einen Vertretungsarzt darum bitten, aber ich muss nachher wegen eines Seminars die Stadt verlassen. Und Dr. Finnestri liegen Traumapatienten einfach nicht.«
Jonah konnte kaum glauben, was er da hörte. Wollte Wallace ihn tatsächlich bitten, den Kollegen von Pierce seelischenBeistand zu leisten? Ihrer Tochter? War dies Gottes Methode ihn zu bestrafen, indem er ihn aus erster Hand das Leid sehen ließ, das er diesen Menschen zugefügt hatte? Es entsetzte und rührte ihn.
»Ich denke nicht, dass es mehr als zwei oder drei Stunden Ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde«, sagte Wallace. »Aber wenn es irgendwie möglich wäre, dass Sie per Telefon mit diesen Leuten sprechen? Besonders mit der Tochter.«
»Ich helfe sehr gern«, sagte Jonah und sprach dabei nicht nur zu Wallace, sondern zu Gott. »Und ich werde wohl besser alle einladen, mich hier im Krankenhaus aufzusuchen.«
»Das geht eindeutig weit über Ihre vertraglichen Pflichten hinaus. Wir können Sie dafür extra bezahlen.«
»Daran würde ich nicht im Traum denken. Es ist das wenigste, was ich tun kann«, erklärte Jonah.
Jonah lernte Sam Garber eine halbe Stunde später kennen. Es war schön, sich in dem Jungen zu verlieren, zu vergessen, was in der Nacht zuvor passiert war.
Sam war stämmig, bedeutend größer als die meisten Neunjährigen und sprach mit einer monotonen Stimme, die ihn noch älter machte. Nur seine weiche Haut und der gerade geschnittene, halblange Pony verrieten, dass er noch ein Kind war. Er saß stocksteif und mit gerunzelter Stirn in dem Sessel vor Jonahs Schreibtisch und erzählte ihm, wie ungeschickt er sei, dass er wieder und wieder hingefallen sei und sich wehgetan habe, dass er nur den einen Wunsch habe, wieder zu Hause bei seiner Mutter und seinem Vater zu sein.
»Das wird diesmal nicht passieren«, sagte Jonah.
Sam runzelte die Stirn noch stärker. »Ich weiß, dass Sie mich nicht hier behalten können«, sagte er zaghaft.
Jonah hörte das Flehen in Sams Worten. Sie werden mich nicht hier behalten. Sie können mich nicht beschützen. Erwusste, dass er seine Entschlossenheit demonstrieren musste, um zu beweisen, dass Sam ihm vertrauen konnte. »Ich kann, und ich werde«, sagte er. »Du wirst auf keinen Fall von hier wieder nach Hause zurückgeschickt. Wir werden dich an einem sicheren Ort unterbringen. Denn ich weiß genau, was deine Mutter dir antut.«
»Sie macht gar nichts.«
»Hast du mich je zuvor in diesem Krankenhaus gesehen?«, fragte Jonah.
»Nein.«
»Weißt du, warum sie mich holen?«
Sam zuckte mit den Achseln.
»Ich kann Gedanken lesen«, erklärte Jonah.
»Klar doch«, spottete Sam. »Was sind Sie, so ‘ne Art Superheld? Haben Sie auch den Röntgenblick?«
»Ich beweis es dir.«
Sam zögerte, und Jonah erschloss daraus eine gewisse Unsicherheit, ob er Gedankenlesen nicht doch für möglich halten sollte. »Machen Sie schon«, sagte er. »Mir ist das egal«
Jonah stand auf und ging zu ihm hinüber. »Darf ich deinen Kopf anfassen?«, fragte er.
»Das ist alles bloß Quatsch«, sagte Sam, doch er senkte leicht seinen Kopf.
»Schließ deine Augen«, wies Jonah ihn an.
Sam gehorchte. Er mochte wie zwölf oder dreizehn aussehen, mochte weit mehr durchgestanden haben, als sein Alter vermuten ließ, doch er war neun und noch immer leicht zu beeinflussen, noch immer bereit zu glauben und imstande zu hoffen, dass es auf der Welt besondere Menschen mit Superkräften gab – und dass diese Superkräfte vielleicht sogar groß genug waren, um ihn zu beschützen.
Jonah legte seine Hände auf den Kopf des Jungen, schloss seine Augen und atmete tief ein. Er stellte sich die s-förmigenSpiralbrüche an Sams Speichen- und Oberarmknochen vor »Wenn deine Mutter dich schlägt, hält sie dich am Arm fest« sagte er, »und du windest dich, um dich loszureißen.«
Sam schwieg.
Jonah
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