Psychopath
erinnerte sich an Heaven Garbers Lügen, dass Sam die Treppe hinuntergestürzt, vom Fahrrad gefallen und rücklings in den Kamin gestolpert sei. Jonah hatte zahllosen Opfern und zahllosen Tätern zugehört, und er wusste, dass ihre Geschichten meistens ein Körnchen Wahrheit enthielten. Die überzeugendsten Lügen waren aus Tatsachen und Fiktionen zusammengesetzt. »Einmal hast du versucht, dich von ihr loszureißen, während sie dich festgehalten und dich geschlagen und angeschrien hat«, malte er die Szene aus, »und dann hat sie ganz plötzlich losgelassen, und du bist die Treppe hinuntergefallen.«
Sam kniff seine Augen fester zusammen, als wolle er die Erinnerung abwehren.
»Hat sie dich ausgelacht?«, fragte Jonah. »Hat sie dich einen Tölpel geschimpft?« Er fühlte, wie Sams Kopf einmal unter seinen Händen nickte. »Ist beim Kamin das Gleiche passiert? Hat sie losgelassen?«
»Mhm-hm«, machte Sam.
»Du bist rücklings gegen den Kaminschirm gefallen?«
Wieder nickte Sam.
Jonah stellte sich Heaven Garber vor, wie sie Sam verspottete, während er weinte. Er konnte förmlich ihr höhnisches Lachen hören. Er bewegte seine Handflächen zu den Schläfen des Jungen, fühlte, wie die ersten Tränen kamen, dann fühlte er, wie er selbst von Schmerz übermannt wurde. Wie wunderbar, von jener Flut der Trauer davongespült zu werden, weit weggetragen zu werden von seinen eigenen Sorgen darüber, was aus ihm geworden war, wozu er fähig war. »Wo war dein Vater?«, fragte er so leise, als würde er beten.
»Weiß nicht.«
»Hast du ihm je erzählt, was wirklich passiert ist?«
»Sie hat gesagt, er würde mir nicht glauben«, sagte Sam. »Sie hat gesagt, sie würde dafür sorgen, dass er mich fürs Lügen in die Besserungsanstalt schickt – und für die anderen Sachen, das mit den Tieren und so. Dass ich ihnen wehgetan hab. Sie hat gesagt, ich würd ihn nie wiedersehen.«
»Und du hast gedacht, er würde sich für sie entscheiden statt für dich?«
Sam zuckte mit den Achseln.
Jonah atmete tief aus und kniete vor Sam nieder. Er sah dem Jungen in die Augen. »Die Wahrheit ist jetzt ans Licht gekommen«, sagte er. »Du darfst deine Geschichten jetzt nicht mehr ändern, egal was passiert. Abgemacht?«
»Aber was wird sie mit mir machen?«
»Sie kann überhaupt nichts machen.«
»Warum nicht?«, fragte Sam.
Jonah dachte daran zurück, wie erschreckt Hank Garber auf seine Bemerkung reagiert hatte, er könne Sam auf immer verlieren. »Weil dein Dad sich für dich entscheiden wird«, sagte er. Er lächelte ihn an. »Du bist selbst so etwas wie ein Superheld.«
»Ich?« Er schüttelte den Kopf. Doch er hatte den Köder geschluckt. »Wie meinen Sie das?«
»Du hattest die ganze Zeit über alle Macht. Nicht deine Mutter. Du hast es nur nicht gewusst.«
»Sind Sie da sicher? Ich fühl mich nicht sehr mächtig.«
»Ich bin mir da ziemlich sicher«, sagte Jonah. Er sah tief in Sams verängstigte Augen. »Was meinst du? Ist es abgemacht? Du änderst deine Geschichte nicht wieder?«
Sams Miene verdüsterte sich. Er biss sich auf die Unterlippe und kaute einen Moment lang gedankenverloren darauf herum. »Abgemacht«, sagte er.
9
Nachmittag, Dienstag, 8. April 2004
Quantico, Virginia
Ein Agent namens Phil Steiner führte Clevenger von der Lobby der FBI-Akademie zum Pathologielabor. Kane Warner und Whitney McCormick standen bereits in Handschuhen und OP-Overalls neben einer Frau, die auf einem Obduktionstisch aus Edelstahl eine Frauenleiche untersuchte. Clevenger zog eilig die gleiche Montur an und gesellte sich zu ihnen.
»Wir dachten, wir können mit unserem Treffen auch hier beginnen«, erklärte McCormick, als Clevenger an den Tisch trat.
Kane Warner begrüßte Clevenger mit einem knappen Nicken.
»Die Leiche ist vor rund einer Stunde aus Wyoming eingetroffen«, fuhr McCormick fort. »Sally Pierce, zweiundsechzig.«
Clevenger sah Pierce an, und ihm stockte der Atem. Sie war bis zur Unkenntlichkeit geprügelt worden, ihre Augenlider waren angeschwollen wie die einer Kröte, ihre Wangenknochen waren eingedrückt, die Unterlippe baumelte an rubinroten Gewebefetzen, ihre abgebrochenen Zähne waren blutverkrustet. Ganze Haarbüschel waren ausgerissen, und die Kopfhaut darunter war stellenweise von Faustschlägen so dünn geklopft worden, dass der Knochen durchschimmerte. Ihre Ohren hatten die Farbe von Auberginen. Ein unregelmäßiger Schnitt und blauschwarze Quetschungen zogen sich um ihren
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