Psychopathen
siebzehnjähriger Japaner von einer seiner Nieren, um sich ein iPad kaufen zu können. Als in China ein zweijähriges Kind mitten auf einem Markplatz nicht nur einmal, sondern zweimal überfahren wurde, während Passanten sorglos ihren Geschäften nachgingen, reichte eine entsetzte Wählerschaft bei der Regierung eine Petition ein, ein sogenanntes »Good Samaritan«-Gesetz zu erlassen, das zur Hilfeleistung verpflichtet. Damit soll verhindert werden, dass so etwas je wieder passiert.
Andererseits ist schon immer und in jeder Gesellschaft Schlimmes geschehen. Und wird zweifellos weiterhin geschehen. Dies zeigt auch der Harvard-Psychologe Steven Pinker inseinem Buch ›Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit‹ auf. 98 Allerdings behauptet Pinker darin sogar, dass die Gewalt nicht zunehme, sondern immer weiter zurückgehe. Dass grausame Morde und andere abscheuliche Verbrechen es nicht deswegen auf die Titelseiten unserer Zeitungen schaffen würden, weil sie so alltäglich seien, sondern weil das genaue Gegenteil zuträfe.
Nehmen wir z. B. den Tatbestand des Totschlags. Beim Durchforsten von Gerichtsprotokollen einer Reihe europäischer Länder haben Wissenschaftler festgestellt, dass die Totschlagrate im Lauf der Jahrhunderte drastisch gesunken ist. 99 Im Oxford des 14. Jahrhunderts schien im Vergleich zu heute jeder ein Totschläger zu sein: Damals lag die Rate bei 110 Morden pro 100 000 Menschen pro Jahr verglichen mit nur einem Mord pro 100 000 Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts in London. Ähnliche Muster sind auch für Italien, Deutschland, die Schweiz, die Niederlande und Skandinavien belegt. 100
Dasselbe gilt für den Krieg. 101 Pinker zufolge starben selbst im konfliktgeschüttelten 20. Jahrhundert von den rund sechs Milliarden weltweit lebenden Menschen nicht mehr als 40 Millionen auf den Schlachtfeldern – was einem Prozentsatz von 0,7 entspricht. Rechnet man noch all jene hinzu, die kriegsbedingten Krankheiten und Hungersnöten sowie Völkermord zum Opfer fielen, steigt die Zahl der Toten auf 180 Millionen. Das klingt nach viel, macht aber nur rund drei Prozent aus und ist damit statistisch gesehen immer noch relativ unbedeutend.
Dies verdeutlicht ein Vergleich mit der entsprechenden Zahl für vorgeschichtliche Gesellschaften, nämlich sage und schreibe 15 Prozent. Der verletzte Schädel des Neandertalers, den Christoph Zollikofer und seine Kollegen im Südwesten Frankreichs ausgegraben haben, ist nur die Spitze des Eisbergs.
Angesichts dieser Prozentsätze stellen sich sofort folgende zwei Fragen: Wie passen diese Zahlen zu der Vorstellung – einer intuitiven, jedoch empirisch spekulativen Vorstellung –, dass die Gesellschaft immer psychopathischer wird? Und wodurchsind im Lauf der Jahre unsere mörderischen, gewalttätigen Impulse so dramatisch gedämpft worden?
Die offensichtliche Antwort auf letztere Frage – oder zumindest diejenige, die wohl die meisten Menschen bereitwillig als Erklärung aus der Schublade ziehen würden – ist das Gesetz. 1651 behauptete Thomas Hobbes im ›Leviathan‹ als Erster, dass wir uns ohne staatliche Kontrollen, also Kontrollen von oben nach unten, in einen Haufen roher Wilder verwandeln würden – eine Vorstellung, die mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält. Pinker argumentiert jedoch eher aus einer Bottomup-Perspektive. Er leugnet zwar keinesfalls die Wichtigkeit von Gesetzen, weist andererseits aber auf einen allmählichen kulturellen und psychologischen Reifeprozess hin.
So schreibt Pinker, dass die Europäer vermutlich »über mehrere Jahrhunderte hinweg, nämlich seit dem 11. oder 12. Jahrhundert und in ausgereifter Form im 17. und 18., ihre Impulse zunehmend unter Kontrolle hielten, die langfristigen Folgen ihrer Handlungen voraussahen und die Gedanken und Gefühle anderer Menschen berücksichtigten. Eine Kultur der Ehre – die Bereitschaft, Rache zu nehmen – machte einer Kultur der Würde Platz – der Bereitschaft, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Solche Ideale hatten ihren Ursprung in ausdrücklichen Anweisungen, die kulturelle Schiedsrichter den Aristokraten und Edelleuten gaben, damit diese sich von den ungehobelten Bösewichtern und Bauern abheben konnten. Dann aber schlossen sie die Sozialisation immer kleinerer Kinder ein, bis sie für diese schließlich zur zweiten Natur wurden. Die Maßstäbe sickerten auch ins Bürgertum ein, das die Oberschicht nachahmen wollte, und von dort gelangten sie in die unteren Schichten, sodass
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