Psychopathen
Normen gibt, die keinen Respekt vor den Gefühlen anderer haben und gleichgültig gegenüber den Folgen ihres Handelns sind? Hat Pinker vielleicht recht mit den subtilen Schwankungen in der modernen Persönlichkeitsstruktur – und mit dem Stups zur dunklen Seite? Den Ergebnissen einer neueren, von Sara Konrath und ihrem Team am Institute for Social Research der University of Michigan durchgeführten Studie zufolge lautet die Antwort auf diese Fragen Ja. 108
Bei einer Umfrage mit bislang 14 000 Probanden hat Konrath festgestellt, dass das Empathie-Level von Collegestudenten, so wie es von ihnen selbst eingeschätzt wird (gemessen mithilfe des Interpersonal Reactivity Index [31] 109 ), während der vergangenen drei Jahrzehnte tatsächlich ständig abgenommen hat – seit der Einführung der Skala im Jahr 1979. Und dass in den vergangenen zehn Jahren ein besonders deutliches Absinken zu beobachten war.
»Heute haben die Collegestudenten rund 40 Prozent wenigerEmpathie als vor dreißig oder vierzig Jahren«, berichtet Konrath. 110
Noch beunruhigender ist laut Jean Twenge, Professorin für Psychologie an der San Diego State University, dass sich das Narzissmus-Level der Studenten im selben Zeitraum in die andere Richtung entwickelt hat, d. h. enorm gestiegen ist. 111
»Viele Menschen halten die derzeitige Gruppe von Collegestudenten, die manchmal ›Generation Ich‹ genannt wird, für eine der egoistischsten, narzisstischsten, konkurrenzbetontesten, selbstsichersten und individualistischsten in der neueren Geschichte«, fährt Konrath fort. 112
Da überrascht es kaum, dass der ehemalige Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte, Lord Dannatt, vor Kurzem die Ansicht vertreten hat, dass eine »moralische Erziehung« als Teil der Grundausbildung von Rekruten sinnvoll sei, weil so vielen von ihnen ein grundlegendes Wertesystem fehle.
»Die jungen Leute sind viel weniger mit traditionellen Werten in Berührung gekommen als vorangehende Generationen«, sagt Dannatt. 113 »Deswegen halten wir es für wichtig, dass [sie] eine moralische Basis erhalten.«
Schick sie zur Armee, hieß es früher von Straftätern. Die Zeiten sind vorbei, denn sie hat bereits genügend von der Sorte.
Warum es zu diesem Verfall der sozialen Werte kommen konnte, lässt sich nicht eindeutig sagen. Als Begründung wird üblicherweise gern eine Verkettung von Umwelt, Vorbildern und Erziehung genannt. Doch zu einer grundsätzlicheren Erklärung könnten uns vielleicht die Ergebnisse einer Studie verhelfen, die Jeffrey Zacks und sein Team am Dynamic Cognition Laboratory der Washington University in St. Louis durchgeführt haben. 114
Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie schauten Zacks und seine Co-Autoren tief in die Gehirne einer Gruppe von Freiwilligen, während diese Geschichten lasen. Ihre Beobachtungen boten eine faszinierende Einsicht darin, wie unser Gehirn das Selbstgefühl konstruiert. Änderungen desAufenthaltsorts der Figuren (z. B. »ging aus dem Haus auf die Straße«) waren mit einer erhöhten Aktivität in den Regionen der Schläfenlappen verbunden, die für die räumliche Orientierung und Wahrnehmung verantwortlich sind, während Veränderungen in Bezug auf die Interaktion der Figur mit Objekten (z. B. »nahm einen Stift in die Hand«) zu einer ähnlich erhöhten Aktivität in einer Region der Stirnlappen führte, die bekanntermaßen eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von Greifbewegungen spielt. Die wichtigste Beobachtung war jedoch folgende: Änderungen in Bezug auf die Zielsetzung einer Figur erhöhten die Aktivität in Bereichen des präfrontalen Kortex. Ist dieser geschädigt, ist das Wissen um Ordnung und Struktur geplanten, bewussten Handelns eingeschränkt.
Die Fantasie, so scheint es, spielt wirklich eine entscheidende Rolle. Wann immer wir eine Geschichte lesen, »simulieren wir mental jede neue Situation, der wir begegnen«, so die Forschungsleiterin Nicole Speer. Unser Gehirn verwebt diese neuen Situationen dann mit Wissen und Erfahrungen aus unserem eigenen Leben und erschafft damit ein organisches Mosaik dynamischer mentaler Synthesen.
Die Lektüre eines Buches gräbt brandneue neuronale Pfade in das alte kortikale Gestein unseres Gehirns. Sie verändert unsere Art, die Welt zu sehen. Sie macht uns, wie Nicholas Carr es in seinem Essay ›The Dreams of Readers‹ formuliert, »aufmerksamer gegenüber dem Innenleben anderer«. 115
Wir werden zu Vampiren, ohne gebissen zu werden. Mit anderen
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