Psychopathen
geführt hat«.
Es lässt sich nicht leugnen, dass er durchaus recht haben könnte.
Andererseits sollten wir laut Charles Elson, dem Leiter des Weinberg Center for Corporate Governance an der University of Delaware, aber auch die Gesellschaft als Ganzes nicht unberücksichtigt lassen. 105 Elsons Ansicht nach lässt sich die Schuld nicht allein den überbezahlten Top-Managern in die Schuhe schieben, sondern ist auch einer Kultur der moralischen Grenzüberschreitungen geschuldet, in der man es aufgrund eines übermäßigen Eigennutzprinzips mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und moralische Grenzen völlig verschwimmen.
Der Wendepunkt war laut Elson – zumindest in den Vereinigten Staaten – Präsident Clintons Affäre mit Monica Lewinsky. Und die Tatsache, dass seine Regierung, seine Familie und (weitgehend auch) sein Vermächtnis relativ intakt blieben. Wie dem auch sei, Ehrgefühl und Vertrauen schwinden auch in anderen Bereichen weiter dahin. Die Polizei steht wegen ihres institutionellen Rassismus in der Kritik, der Sport wegen weitverbreiteten Dopings und die Kirche wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger.
Selbst das Rechtswesen bildet hier keine Ausnahme. Beim Prozess um die Entführung von Elizabeth Smart in Salt Lake City drängte der Anwalt von Brian David Mitchell – dem obdachlosen Straßenprediger und selbsternannten Propheten, der die vierzehnjährige Elizabeth entführt, vergewaltigt und neun Monate lang gefangen gehalten hatte (Smarts Aussage zufolge vergewaltigte er sie übrigens in dieser Zeit fast täglich) – den urteilenden Richter, seinem Mandanten gegenüber Nachsicht walten zu lassen, und zwar mit der Begründung: »Ms Smart hat es überstanden. Hat es überlebt. Hat es überwunden.« 106
Wenn schon die Gerichte anfangen, solche Töne anzuschlagen, wo wird die Entwicklung dann hinführen?
Generation Ich
Bei Bier und Popcorn im Harvard Faculty Club erkläre ich Steven Pinker, dass wir vor einer Art Rätsel stehen. Denn einerseits gibt es Beweise dafür, dass die Gewalt in der Gesellschaft abnimmt, andererseits dafür, dass die Gesellschaft psychopathischer wird.
»Okay. Nehmen wir an, die Gesellschaft wird
tatsächlich
psychopathischer«, entgegnet er. »Das heißt nicht unbedingt, dass es auch eine Zunahme der Gewalt geben wird. Die Mehrzahl der Psychopathen ist, soweit ich sehe, nicht gewalttätig. Sie fügen anderen vor allem emotionalen und keinen physischen Schmerz zu ...
Sollte die Psychopathie wirklich irgendwann Fuß fassen, könnte es natürlich sein, dass wir, verglichen mit dem Ausmaß der Gewalt vor vierzig oder fünfzig Jahren einen minimalen Anstieg erleben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir einen Unterschied im Gewaltmuster entdecken werden. Es wird vielleicht beliebiger. Oder instrumenteller.
Ich glaube, dass die Gesellschaft in höchstem Maße psychopathisch werden müsste, um wieder so gewalttätig zu werden, wie wir es z. B. im Mittelalter waren. Und aus einer rein praktischen Perspektive betrachtet, ist dieser Grad an Psychopathie einfach nicht erreichbar.
Es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn sich herausstellte, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zu subtilen Schwankungen im Persönlichkeitsstil oder im interpersonellen Stil gekommen ist. Doch wir haben die Sitten und die Etikette der modernen Zivilisation viel zu stark verinnerlicht, als dass sie durch einen Ausschlag oder, was wahrscheinlicher ist, durch einen Stups zur dunklen Seite unterminiert werden könnte.«
Pinker hat recht, wenn er sagt, dass Psychopathie langfristig nicht zukunftsfähig ist. Wie wir im vorangehenden Kapitel mithilfe der Spieltheorie gesehen haben, ist sie ein biologischerBlindgänger. Pinker hat auch recht damit, dass es subtile Veränderungen hinsichtlich der Motivation zu gewalttätigem Handeln gegeben haben könnte. In einer vor Kurzem vom Center for Crime and Justice am King’s College in London durchgeführten Studie wurden 120 verurteilte Straßenräuber gefragt, warum sie ihre Straftaten begangen hatten. 107 Ihre Antworten sagten eine Menge über das moderne britische Straßenleben aus. Nervenkitzel. Spontaner Impuls. Status. Und finanzieller Gewinn – in ebendieser Reihenfolge. Genau das sorglose, gefühllose Verhalten, das man oft bei Psychopathen antrifft.
Erleben wir also die Entstehung einer sub-psychopathischen Minderheit, für die die Gesellschaft nicht existiert? Einer neuen Spezies von Individuen, für die es weitgehend keine sozialen
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