Psychopathen
hinteren Ende der Kapelle des Magdalen College in Oxford hängt eine Gebetstafel. Eines Tages fiel mir unter den zahlreichen Bitten um göttliche Intervention folgende auf: »Oh Herr, bitte lass meine Lottozahlen drankommen, dann wirst du nie wieder von mir hören müssen.«
Seltsamerweise war es die einzige Bitte, auf die Gott geantwortet hatte. Er schrieb: »Mein Sohn, mir gefällt dein Stil. In dieser elenden, in Unordnung geratenen Welt, die mir so viel Kummer bereitet, hast du mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Verdammt, ich WILL wieder von dir hören. Nächstes Mal also mehr Glück, du unverschämter Kerl! Alles Liebe, Gott.«
Wer sagt, Gott habe keinen Humor! Und wer sagt, Gott sei dieser Welt so fern, dass er kein persönliches Interesse an den unbedeutenden Sorgen seiner verlorenen, bedauernswerten Kinder habe! Hier hielt der Allmächtige es eindeutig für angebracht, sich von einer anderen Seite zu zeigen: als gewitzt, knallhart, nüchtern und fähig, Gleiches mit Gleichem zu vergelten – mit mehr als nur flüchtiger Kenntnis der menschlichen Psychologie. Sollte das in Ihren Ohren nach der Art von Gott klingen, der keine Angst hat, die Regler am Mischpult höherbzw. niedriger einzustellen, wenn die Situation dies erfordert, dann liegen Sie nicht falsch.
1972 veröffentlichte der Schriftsteller Alan Harrington ein wenig bekanntes Buch mit dem Titel ›Psychopaths‹. Darin vertrat er eine völlig neue Theorie der menschlichen Evolution. Psychopathen, so behauptete Harrington, stellen eine gefährliche neue Spezies des Homo sapiens dar: einen maßgeschneiderten darwinistischen Notfallplan, um in der kalten, harten modernen Welt überleben zu können. Eine unbeugsame Generation P.
Entscheidend für seine These war das, was er als schleichend voranschreitende Schwächung der urzeitlichen ionischen Bindungen – ethischer, emotionaler und existentieller Bindungen – betrachtete, die Jahrhundert für Jahrhundert und Jahrtausend für Jahrtausend die Menschheit zusammengeschweißt hatten. Als die westliche Zivilisation, so Harrington, sich noch dem traditionellen bürgerlichen Sittenkodex von harter Arbeit und Streben nach Tugendhaftigkeit verschrieben hatte, wurde der Psychopath an den Rand der Gesellschaft gedrängt und von seinen vernünftigen Mitbürgern als Verrückter oder Verbrecher verurteilt. Als sich die Gesellschaft im Lauf der 20. Jahrhunderts jedoch immer schneller veränderte und der Zusammenhalt sich immer mehr lockerte, wurden die Psychopathen von ihr akzeptiert.
Als Schriftsteller der Ära des Kalten Krieges mit einem nichtwissenschaftlichen Hintergrund wusste Alan Harrington zweifellos, wovon er redete. Seine Beschreibungen des Psychopathen können es mit vielen der Porträts aufnehmen, die man heute zuweilen liest, ja sie übertreffen sie teilweise sogar. Der Psychopath ist laut Harringtons Definition der »neue Mensch«: ein psychologischer Superheld, der frei ist von den Fesseln der Angst und der Reue. Er ist brutal, gelangweilt und abenteuerlustig. Aber auch sanftmütig, wenn die Situation es verlangt.
Harrington führt einige Beispiele an: »Säufer und Fälscher, Suchtkranke und Blumenkinder, der Mafia-Kredithai, der seinOpfer böse zurichtet, der charmante Schauspieler, der Mörder, der umherziehende Gitarrist, der hektische Politiker, der Heilige, der sich vor Traktoren legt, der eiskalt dominierende Gewinner des Nobelpreises, der die Laborassistenten um ihre Anerkennung bringt, sie alle ziehen ihr Ding durch.« 141
Und das völlig sorgenfrei.
Der hl. Paulus – Schutzpatron der Psychopathen
Dass Harrington Heilige in seine Liste aufnimmt, ist kein Zufall. Und er lässt es auch nicht bei dieser einen Erwähnung bewenden. In seinem Buch wimmelt es geradezu von Vergleichen zwischen Psychopathen und spirituell Erleuchteten. Wobei nicht alle Vergleiche von ihm selbst stammen.
So zitiert er z. B. den Arzt Hervey Cleckley, dem wir in Kapitel 2 begegnet sind und der uns in ›The Mask of Sanity‹, seinem Klassiker von 1941, eine der ersten klinischen Beschreibungen der Psychopathie lieferte:
»Das, wogegen er [der Psychopath] meint, protestieren zu müssen, ist keine kleine Gruppe, keine bestimmte Institution oder Ideologie, sondern das menschliche Leben selbst. In diesem scheint es für ihn nichts wirklich Bedeutsames oder auf Dauer Stimulierendes zu geben, sondern nur flüchtige und relativ belanglose Launen, eine entsetzlich monotone Folge von kleineren Frustrationen, und
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