Psychotherapeuten im Visier
nicht abwendbare Tod entweder durch Ertrinken oder Opfer der hungrigen Haie zu werden –, war die allen bekannte Strafe, eine grausame Strafe, die abschrecken sollte, sich den das Überleben sichernden Regeln auf See nicht zu widersetzen.
Der seelische Durst des Kranken ist ebenso furchtbar, er reißt die Grenzen der Vernunft ein bis zur Selbstaufgabe. Was ihm an Kraft geblieben ist, setzt er jetzt ein und weiß, was ihm bevorsteht, wenn er sich aufmacht, das Nass zu suchen – einen Therapeuten, der in der Lage ist, seinen Durst nach Leben zu löschen. Schließlich ist längst evident, wie lange der Leidende auf seine rettende Therapie warten muss – drei Monate sind im Deutschen Gesundheitswesen das Minimum. Den Weg in die psychiatrische Notaufnahme wird er noch scheuen, aus vager, aber nicht immer unberechtigter Furcht, was ihm dort begegnen würde.
Niemand, der ärztliche oder therapeutische Hilfe sucht –
in welcher Disziplin auch immer –, rechnet mit einem Schockerlebnis. Das mag irgendwann die niederschmetternde Diagnose sein, aber doch nicht die Person, der man sich in seinem Elend zuerst einmal anvertrauen will – nein, muss. Oder doch? Das menschliche Gehirn liebt keine Überraschungen in dem Sinne, dass es verstört reagiert, wenn es nicht sofort einordnen kann, wie es mit einer vollkommen rätselhaften Botschaft umgehen soll. Aber wenn das Gehirn schon keine Überraschungen liebt, was soll dann der Kranke sagen, der in der Summe nur eines will: Sicherheit, Aufgehobensein, Linderung und zumindest eine vage Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft, und all das zur seelischen Entlastung möglichst schnell – von seinem Gegenüber, dem Arzt oder Therapeuten!
Wenn wir so manchen jungen Möchtegern-Banker als lächerlich und skurril erleben oder den geradezu karikaturreifen Künstler vor uns haben, dann bleibt nichts anderes als wissendes Schmunzeln, wirklich beeindruckt im Sinne von Innehalten sind wir nicht – es bleibt ein flüchtiger Eindruck zurück, nicht mehr, und gefährlich für unser Seelenleben ist er schon gar nicht, im Gegenteil, Heiterkeit ist stets wohltuend. Aber wie sieht häufig die erste Begegnung mit einem Therapeuten aus? Der Gesunde mag zu dem Schluss kommen, dass Psychiater und Psychologen tatsächlich alle »verrückt« sind, schließlich sieht er nur zu oft seine Vorurteile bestätigt. Wer aber krank und schwach ist, weder über eine emotionale noch über eine intellektuelle Gegenwehr verfügt – oder gar noch über Humor! –, für den kann die erste Begegnung zu einem Schockerlebnis werden. Warum? Weil Therapeuten nur zu gern das ihnen anhaftende Image auch bestätigen. Dass dies zum eigenen Nachteil und vor allem zum Schaden ihres Patienten ausfällt, scheinen sie bewusst
in Kauf zu nehmen oder in ihrer häufig egomanen Wahrnehmung einfach auszublenden.
Ehe ich einige dieser Szenarien einer Erstbegegnung schildern werde, zuerst noch etwas Grundsätzliches zu dem Setting genannten Ritual, wie es sich täglich in den Praxen abspielt: Der Hilflose trifft auf den Starken – das gibt es auch ebenso täglich im richtigen Leben. Viele dieser Starken nutzen ihre Position schamlos aus, aber es gibt auch die Nachdenklichen, die Fürsorglichen, die alles daransetzen, den Schwachen seine Situation nicht spüren zu lassen, sondern im Gegenteil alles tun, um ihm auf Augenhöhe mit großer Empathie zu begegnen. Genau das wünscht sich der hilflos Kranke, nur das. Aber: So wie Gewalt die Waffe der Schwachen genannt wird, so ist es nur allzu häufig das Dominanzgebaren der Therapeuten – ihre Abwehrwaffe ist zunächst einmal das inszenierte Moment der Verunsicherung. Wie reagiert der Neuling auf mich? Wie auf die Atmosphäre meines Behandlungszimmers, wie auf meinen durchdringenden Blick, der schon so viele kranke Seelen durchleuchtet hat?
Aber soll wirklich der Schwache sich zuerst einmal entblößen, soll wirklich er der Resonanzboden sein für die hier angeschlagenen habituellen Töne? Nein, das ist ein zynisches Rollenverständnis, ein unzulässiger Testlauf im Umgang miteinander, der an Rituale bei Hofe vergangener Jahrhunderte erinnert, die in Rede und Antwort klar definiert waren – und wehe, der Untergebene wich davon ab oder maßte sich gar eigene Autorität an. Übertreibe ich? Nein, was ich selbst bei diesen Erstbegegnungen erlebt habe und welch skurrile Schilderungen ich von anderen erfahren habe, die diesem unsäglichen Setting ausgesetzt waren, zwingen mich geradezu,
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