Psychotherapeuten im Visier
einen ersten Behandlungstermin sind und wie gering das Zeitkontingent
ist, das die Therapeuten dem einzelnen Patienten widmen können. Gründe genug also, nicht an dem Zustand zu rütteln, weil ohnehin keine Besserung in Aussicht ist – und das auf Jahre. Wer in einer größeren Stadt lebt, ist geradezu gut dran, auf dem Lande ist die Situation dagegen dramatisch. Die Leidtragenden sind überall die Hilfe suchenden Patienten. Standesorganisationen, Gesundheits- und Versicherungssystem sowie die verantwortlichen Politiker im Gesundheitsressort sitzen die für die Patienten entwürdigende Situation aus, Verbesserungen gibt es keine und ein Paradigmenwechsel in der Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung des Krankheitsbildes Depression ist so schnell nicht zu erwarten – und das bei bis zu 8 Millionen Menschen, die verzweifelt versuchen, so gut es eben geht, über den Tag zu kommen – Tendenz stark ansteigend. Für manchen wird die Qual so groß, dass der Suizid die einzige Lösung zu sein scheint. Zum ersten Mal wurden in diesem Jahr zahlreiche Fälle öffentlich bekannt, deren Selbsttötung direkte Folge einer schweren Depression waren, ausgelöst durch quälende Überforderung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und ein zerstörerisches Arbeitsethos, dem sich die Betroffenen nicht auf anderem Wege entziehen konnten. Es waren Fälle in Asien ebenso wie in Europa und in Amerika. Das Krankheitsgeschehen Depression hat noch nie an den Landesgrenzen haltgemacht, aber jetzt werden die Fälle auch aus entlegenen Regionen der Welt bekannt und in Europa beginnt die Diskussion endlich, welche möglichen gesellschaftlichen Kausalitäten zum Ausbruch der Depression führen, warum es den einen trifft, den anderen aber nicht, obwohl die jeweilige Lebenssituation so unterschiedlich nicht zu sein scheint. Es geht also auf der einen Seite um die Ursachenforschung, auf der anderen, die den Patienten
am meisten interessiert, darum welche Form der Therapie denn wohl für ihn die wirksamste, die effektivste sein mag. Es gibt Krankheiten, denen Arzt und Patient mit fachlich klar definierten Behandlungsalternativen begegnen können, der Patient also auch tatsächlich entscheidungsfähig ist – Prostataprobleme – und selbst Verantwortung übernehmen kann. Bei Herzinsuffizienz sieht es anders aus, da muss sich der Betroffene auf seinen Arzt verlassen. Hier hat er nur eine einzige Option: Vertrauen.
Und wie ist die Situation in der Depressionstherapie? Wer privat versichert oder Selbstzahler ist, bemüht sich um einen Behandlungstermin beim Psychologen oder Psychiater. Auch für ihn sind die Wartezeiten lang, aber sehr viel kürzer als für den Kassenpatienten. Welches Konzept im Umgang mit der Depression der Therapeut hat, ließe sich natürlich beim ersten Gesprächstermin erfragen, aber wer hat schon nach drei oder sechs Monaten quälender Wartezeit den Mut, diesen heiklen Punkt anzusprechen? Ich behaupte, niemand, der wirklich an seiner Depression leidet. Ihm ist es egal, wie das durstlöschende Nass der Therapie schmeckt und ob es sauber genug ist – es soll doch vor allem gegen den Durst der Verzweiflung helfen.
Ein verantwortungsvoller Therapeut klärt seinen Patienten seriös auf, welches Behandlungskonzept im vorliegenden Fall am meisten Erfolg verspricht. Wenn er als Psychologe erkennt, dass der Kranke zuerst einmal eine medikamentöse Therapie benötigt, um überhaupt eine der anderen Formen der Behandlung einzugehen, dann wird er ihn an einen Psychiater überweisen, denn nur der ist berechtigt, auch Medikamente zu verschreiben. Der korrekte Ablauf ist also: Anamnese und ein erstes Kennenlernen, Diagnose, Behandlungsvorschlag oder die Überweisung an den Facharzt durch
den Psychologen. Dieses für den Patienten wirkungsvollste Vorgehen – inhaltlich und zeitlich – wird aber keineswegs immer eingehalten. Lassen Sie es mich überspitzt formulieren: Wer den Termin beim Psychologen bekommen hat, wird ihn so schnell nicht aufgeben. Die sogenannte Therapie kann also sehr lange dauern, weil dem Patienten die Option auf eine medikamentöse Behandlung verstellt ist. Die Situation beim Psychiater ist selten besser. Wer überweist schon gern einen Privatpatienten an einen Psychologen? So wie sich der eingebildete Künstler stets für den Besten hält, so sind auch Therapeuten in der Regel sehr von sich und ihrer Behandlung überzeugt – so lange, bis der Patient lästig und irgendwann mit dem Label »therapieresistent«
Weitere Kostenlose Bücher