Psychotherapeuten im Visier
Therapeutenschaft, allerdings weniger mit der Ausstrahlung empathischer Hingabe als mit dem Habitus einer seelenseherischen Überlegenheit, die bewusst den emotionalen Austausch auf Augenhöhe zu vermeiden sucht. Als könnte man in einer dem Patienten wohltuenden Umarmung nicht gleichzeitig die nötige therapeutische Distanz wahren. Haben Therapeuten Angst vor zu viel Nähe und scheuen sie gar den situativ oft so hilfreichen Körperkontakt?
Immer wieder höre ich von depressiv erkrankten Menschen, dass sie vom ersten Tag der Therapie an und dann über Monate dem Therapeuten ganz allein in all ihrer Einsamkeit und Verlassenheit ausgesetzt sind. Sie werden auch nicht aufgefordert, alles zu tun und die Nächsten zu bitten, auch von dritter Seite ein wenig Licht in das Dunkel der Depression zu bringen. Wer als Therapeut sein fragwürdiges Behandlungsprogramm pflegt, dass die Depression allein und ausschließlich ein sich selbst und die seelischen Probleme des Patienten erklärender Prozess sei, spielt mit der Lebenszeit der Schutz suchenden und ausgelieferten Menschen. Er spielt aber auch mit der Sorge und der Betroffenheit der Angehörigen, wenn er sich einem klärenden Gespräch aus vermeintlich therapeutischer Notwendigkeit entzieht.
Patienten ebenso wie nahe Angehörige können mit der Wahrheit über den Krankheitszustand des Patienten stets
besser umgehen als mit dem Schwebezustand der Ungewissheit und des Ausgeschlossenseins. Die Therapie einer Depression ist kein demokratischer Findungsprozess mit gleichem Stimmgewicht, sondern vielmehr ein Behandlungsverfahren, das jeden nur möglichen Aspekt der Beteiligten einzubeziehen hat. Die Einschätzung und Bewertung der unterschiedlichen Informationen, der biografischen Hintergründe und der Lebens- und Verhaltensgewohnheiten ist aber dann irgendwann allein dem Therapeuten zu überlassen, er trägt die Verantwortung des Behandlungserfolges und die kann ihm niemand nehmen. Er muss sich dann aber auch am Behandlungserfolg messen lassen – inhaltlich und zeitlich.
Natürlich verbitten sich manche Patienten jedweden Kontakt des Therapeuten zu ihren Nächsten, aber allein das ist schon Grund genug, gerade dieses eindeutig ablehnende Verhalten zu hinterfragen. Würden wir als Patienten vor einer kleinen ebenso wie einer großen Operation den Ärzten den Einblick in die gerade erhobenen Laborwerte verbieten? Angehörige und Freunde können solche Laborwerte des Lebens sein und je schneller die Depression eines Menschen in Ausprägung und Einfluss auf das soziale Gefüge des Patienten interpretierbar ist, umso zielgerichteter kann die Behandlung erfolgen. Für den Kranken zählt in seiner Verzweiflung jeder Tag – wirklich jeder, der ihn zumindest einen kleinen Schritt in Richtung Zuversicht weiterbringt, und sei es durch die positive Wirkung eines Placeboeffektes. Was kann das sein? Es ist so einfach: Es geht um das An-die-Hand-Nehmen eines Depressionskranken, der vorübergehend den lebensbefördernden Kontakt zum eigenen Ich, zu dem Selbstverständnis und dem Selbstwert als autonomes Wesen, als wertvoller Mensch verloren hat.
Das gängige therapeutische Ritual sieht anders aus. Der
Patient soll aus eigener Kraft und bestenfalls mit medikamentöser Unterstützung zur gewohnten Lebenskraft zurückfinden – wenn er denn das Privileg hat, von einem Psychiater behandelt zu werden und nicht von einem Psychologen, der im biografischen Brandfall noch nicht einmal den medikamentösen Feuerlöscher betätigen darf, sondern erst den Weg der Überweisung an den Facharzt für Psychiatrie oder in eine psychiatrische Klinik bahnen muss, was für den behandelnden Psychologen stets ein schwieriger Akt ist: das Eingeständnis seiner therapeutischen Hilflosigkeit. Jeder von uns tut sich schwer in der Akzeptanz, mit dem eigenen fachlichen Latein am Ende zu sein, aber nur wenige tragen dabei wie Therapeuten die Verantwortung für das Leben eines Menschen, der schmerzhaft erkennt, dass ihm sein Gegenüber nicht mehr helfen kann. In solchen Situationen besteht Lebensgefahr!
Wer einmal als Depressionskranker diese Erfahrung machen musste, versteht zu Recht unser schwächelndes Gesundheitssystem nicht mehr. Wenn die Depression der biografische Schwelbrand ist – inklusive starker Rauchentwicklung – , warum kommt dann nicht sofort die therapeutische Feuerwehr? Diesen Zynismus gegenüber der lebensgefährlichen Krankheit Depression erleben Hunderttausende jeden Tag. Sie sind Bittsteller, die
Weitere Kostenlose Bücher