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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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verstehen.
    Gleichwohl sei hier eine Warnung angebracht: Auch wenndie Neurologie viele Fragen aufgeworfen und manche befriedigenden Antworten geliefert hat, so darf man ihre Erkenntnisse nicht pauschal verallgemeinern, sie müssen immer vor dem Lebens- und Alltagshintergrund der einzelnen jugendlichen Persönlichkeit gewichtet werden.
    So viel lässt sich aber doch festhalten: Die Neuronen im Gehirn eines Pubertierenden unterscheiden sich von denen bei einem Kind oder einem (jungen) Erwachsenen. Das hat Auswirkungen auf das Denken, Handeln und Fühlen eines Heranwachsenden. Um es noch genauer zu formulieren: Gerade zu Beginn der Pubertät sterben viele Nervenverbindungen im Gehirn ab, während sich andere immer stärker vernetzen. Dies betrifft vor allem jene, die für Motivation und Gefühl verantwortlich sind. Einhergehend mit hormonell bedingten Veränderungen bringen diese neurologischen Umstrukturierungen die für die Pubertät so typischen Stimmungsschwankungen, aber auch die fehlende Motivation (für die Schule, den Sport, Stichwort: null Bock auf nichts) oder die Faszination an riskanten Unternehmungen mit sich. Um es sehr pointiert zu formulieren: Das Gehirn eines Pubertierenden hat noch keine fertig ausgebildete Struktur, es ist im Umbruch befindlich. Dieser lässt sich vergleichen mit dem Umbau eines Kaufhauses, bei dem vieles bis auf die Stützpfeiler abgerissen wird, um es dann komplett neu zu strukturieren und wieder neu aufzubauen. Und an den Wänden findet man das Schild: «Verkauf geht trotz Umbau weiter!»
    Übertragen auf den Pubertierenden, bedeutet diese Gleichung: Neuronale Strukturen, die für die Kindheit so prägend und wichtig waren, sterben ab, werden abgerissen, aber zugleich entstehen neue Verbindungen und Verschaltungen. Das Gehirn wird ganz allmählich erwachsen, aber nicht gradlinig, sondern von manchen Fehlschaltungen begleitet. Und manche Verschaltungen, die nicht häufig benutzt werden, verschwinden. Ungleichzeitigkeit zeichnet den Umbau des Gehirns aus: MancheVeränderungen (z.   B. die Motorik) gehen schnell, andere (z.   B. das räumliche Denken, die zeitliche Orientierung oder moralische Überzeugungen) brauchen länger. Um diese neurologische und hormonelle Prozesse zu konkretisieren: Viele Eltern klagen über ihre trödelnden Kinder am Morgen, darüber, dass sie morgens müde seien, weil sie am Abend zu spät ins Bett gehen würden. Der Grund hierfür liefert der Neurologe: Das müde machende Hormon Melatonin wird bei einem Pubertierenden am Tag mit zeitlicher Verspätung hergestellt. Das hat zur Folge: Pubertierende werden später müde, wollen dann nicht ins Bett, weil sie nicht schlafen können, und kommen morgens unausgeschlafen und müde aus dem Bett, trödeln und reagieren entsprechend langsam und unausgeglichen.
    Ähnliches gilt für die Veränderung des Präfrontalhirns während der Pubertät. Es steuert Entscheidungsprozesse und Planungsfähigkeit. Dieses ist während der neurologischen Umstrukturierung nur schwer zugänglich oder steuerbar. Daraus ergibt sich manch merkwürdiges Verhaltensmuster beim Pubertierenden: Es kommt zu vielen Instinktreaktionen, weil das Präfrontalhirn nicht situationsangemessen reagiert. Es entstehen unvermutete Wutausbrüche, die Stimmung schwankt zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Und Jugendliche vergessen viel. Man muss sie ständig und ununterbrochen an etwas erinnern. Vergesslichkeit ist kein böser Wille, vielmehr Ausdruck eines nur begrenzt arbeitenden Präfrontalhirns. Dies ist auch eine Erklärung für die Gleichgültigkeit, mit der sie auf ausgesprochene Konsequenzen («Ist mir doch egal!») oder auf eine fehlende Zukunftsplanung reagieren. Pubertierende denken nicht, oder nur sehr eingeschränkt, an später. Sätze wie «Wenn du nicht lernst, dann machst du keinen Abschluss» kommen bei Pubertierenden nicht an, führen zumindest zu keinen Veränderungen im Verhalten. Das nur eingeschränkt funktionierende Präfrontalhirn liefert zugleich Erklärungen für manch riskantesVerhalten in der Pubertät: Jugendliche brauchen einen starken Kick, um sich zu spüren. Gleichzeitig können sie aber Gefahren nicht konkret einschätzen oder gehen nicht selten ein hohes Verletzungsrisiko ein.
    Immer wenn ich solche wissenschaftlichen Erkenntnisse vortrage, kommt schnell die Frage, ob man den neurologischen und hormonellen Veränderungen denn hilflos ausgeliefert wäre, man also gar nichts machen könne, Erziehung

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