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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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überflüssig wäre. Die Hirnforschung liefert wichtige Ergebnisse, um das Alltagshandeln angemessen zu verstehen. Aber das Verständnis und Verstehen von Handlungsmustern dürfen nicht mit deren Akzeptanz verwechselt werden. Man ist neurologischen und hormonellen Umstrukturierungen nicht hilflos ausgeliefert, haben doch reale Alltagserfahrungen und Lebenssituationen ihre Rückwirkungen auf die Umstrukturierung des Gehirns. Geistige und motorische Aktivitäten (Sport, Musik, Kunst, Lesen) sind wichtiger denn je, um die «Umbauarbeiten» zu unterstützen. Und darüber hinaus sind Bindung, Beziehung und Erziehung unverzichtbar, auch wenn man manchmal als Vater und Mutter meint, der neurologischen Vehemenz nichts entgegenstellen zu können, man sich ohnmächtig fühlt. Vielleicht sollte man, um sich auf die neurologischen Veränderungsprozesse verstehend einzulassen, sich in Gedanken ein Schild malen, das dem Jugendlichen umgehängt wird und auf dem steht: «Das Leben geht trotz Umbaus weiter! Für etwaige Unannehmlichkeiten bitte ich um Verständnis!»

AUTOAGGRESSIONEN UND ZERSTÖRUNG ALS HILFERUF
    Befragt man Eltern, Lehrer, Erzieher und andere Erwachsene, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, danach, was sie mit Aggressionen verbinden, so nennen sie zerstörerisches oder störendes Tun wie: treten, beißen, kratzen, (um sich) schlagen, hauen, boxen, verletzen, würgen, spucken, anbrüllen, stehlen, lügen, schreien, beleidigen oder erniedrigen, oder aber Eigenschaften wie: gemein, hinterhältig, brutal, rücksichtslos, gewalttätig, dominant, herrschsüchtig, dreist, egozentrisch, asozial, konfliktunfähig, chaotisch, hyperaktiv, unaufmerksam oder unkonzentriert. Man konzentriert sich – wie die gesamte öffentliche Diskussion – auf das Destruktive, mit dem Aggressionen daherkommen, und übersieht dabei die verdeckten und versteckten, die leeren und stillen Formen der Aggression. Es gibt Jugendliche, die gelernt haben und spüren: Nur wenn ich – im wahrsten Sinne des Wortes – um mich schlage, mit Taten und Worten, dann sieht man mich, dann bemerkt man mich. Hinter vielen (wohlgemerkt: nicht allen!) brutalen, gewalttätigen und gemein-bösartigen Grenz- und Regelverletzungen verstecken sich Hinweise, die es zu entschlüsseln gilt, will man Heranwachsenden soziales Miteinander, gegenseitige Achtung und Respekt vermitteln.
    Minderwertigkeitsgefühle lassen kein Selbstbewusstsein entstehen. Solche Gefühle brechen sich ihre Bahn in destruktiven Worten und Tagen.
    «Bevor ich untergehe», so hat sich der 1 6-jährige Jakob ausgedrückt, «mache ich noch jede Menge Scheiß!» Aber Minderwertigkeit drückt sich eben nicht allein in nach außen gerichteten, destruktiven Aktivitäten aus. Aggressionen können sich zugleich nach innen richten.
    Aggressionen sind gewaltige Energien, die sich in Handlungen entladen wollen. Aggressionen haben mit Bewegung und Dynamik zu tun, die, sollen sie sich nicht ins Zerstörerische wenden, durch Regeln und Rituale zivilisiert oder umgelenkt werden müssen. Können sich aber Aggressionen nicht ausdrücken, bleiben sie im Körper und schädigen ihn.
    Über diese Seite der Aggression redet man kaum. In der öffentlichen Diskussion findet sich dafür nur selten Platz. Ein anschauliches Beispiel ist die Diskussion über Gewalt in der Schule: Über Mobbing, über Bullying, über das Abzocken, über Erpressung, über Nötigung, über Waffen finden sich – natürlich zu Recht – viele Hinweise. Aber darüber, dass viele Schüler und Schülerinnen mit Herzrasen, mit Magenbeschwerden, mit feucht-nassen Händen und fiebrig-heißer Stirn den Unterricht besuchen, darüber geht man häufig hinweg. Dabei hat sich gerade hier in den letzten beiden Jahrzehnten eine qualitative Veränderung ergeben. Will man also der Vielfalt, mit der sich Aggressionen im Alltag von Heranwachsenden zeigen, gerecht werden, dann ist es unabdingbar, auch der verdeckten Seite der Aggression mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
    Dabei finden sich in der Alltagssprache viele Hinweise darauf, wie der Körper auf Disbalance in der Nahwelt, auf Disharmonie in den zwischenmenschlichen Beziehungen, reagiert. Nimmt man solche Redewendungen, die einem leicht über die Lippen kommen, in ihren tieferen Bedeutungen ernst, dann gewinnt man einen Eindruck davon, was nach innen gerichtete Aggressionen an körperlichen Beschwerden auszulösen vermögen. Da redet man schon mal verzweifelt davon, wenn einem etwas auf den Wecker geht:

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