Pubertät – Loslassen und Haltgeben
«Ich kann das jetzt nicht mehr hören!», andere haben schlichtweg «die Nase voll», sagen das auch, nehmen aber das körperliche Symptom nicht ernst. Dritte schlucken alles herunter und haben ständig eitrige Mandelentzündungen. Viele zerbrechen sich den Kopf und wundern sich über nicht endenwollende Schmerzen. Da «geht einem etwas an die Nieren», da «nimmt man sich etwas zu Herzen», und manchem «schlägt etwas auf den Magen». Und wieder anderen «geht etwas unter die Haut», oder «einem brennt etwas auf der Haut» – und manchmal sieht die Haut dann entsprechend aus. Nun will ich kein monokausales Denken verbreiten, wonach die Krankheit ein Weg ist, wonach sich Ungleichgewichte in der persönlichen Umwelt sofort und ursächlich auf die somatischen Befindlichkeiten auswirken müssen. Es gibt resiliente Heranwachsende, also Kinder und Jugendliche mit erheblicher Widerstandskraft, denen noch so großes Ungemach kaum etwas anhaben kann. Sie haut kein noch so wüster Tornado um.
Doch dann gibt es Kinder, die reagieren sehr sensibel mit ihrem Körper, wenn die Umgebung in Disbalance ist. Jeder Körper will Harmonie. Ist diese nicht gewährleistet, zeigt er das, macht auf sich aufmerksam. Nicht die somatischen Begleiterscheinungen sind somit das Problem. Sie stellen vielmehr Zeichen dar, mit denen der Körper auf sich verweist. Komplikationen ergeben sich meist daraus, dass man die Zeichen übersieht, fehldeutet, nicht wahrhaben will oder gar oberflächlich mit Medikamenten oder Operationen – häufig vergeblich – zum Verschwinden bringen möchte.
Selbstbewusste Kinder sind sich ihrer Körper bewusste Kinder. Sie fühlen sich in ihm zu Hause. Auch dies ist Aufgabe einer Aggressionserziehung: den Körper zu stärken. Das meint nicht, ihn durch Bodybuilding zu stählen und im Fitnessstudio zu quälen, das meint nicht, zu keuchen und zu schwitzen, ihm zu zeigen, wozu der Verstand und das Trainingsprogramm fähig sind. Den Körper zu stärken heißt, ihn zu achten, Zeichen, die er setzt, zu bemerken und zu deuten, um mit ihm in Harmonie zu gelangen. Das ist eine lebenslange Aufgabe: Sie fängt beim Säugling an und reicht bis ins hohe Alter.
Erwartungsdruck
Jessica, neun Jahre, hat schon viele kleine Operationen hinter sich. Für ihr Alter wirkt sie sehr zerbrechlich. Ihr Körper ist schmal, ihre Augen flackern unsicher, wenn man mit ihr spricht. Es scheint, als fühle sich Jessica am wohlsten, wenn man sie allein lässt. Sie kann sich hervorragend ausdrücken, ist hellwach, durchschaut selbst komplexe Situationen blitzschnell. Es ist, als habe sie viele Antennen, mit denen sie die Reize ihrer Umwelt aufnimmt. Die erste Operation hatte sie mit fünf Jahren. Ihr wurden nach ständigen Mittelohrentzündungen neue Paukenröhrchen eingesetzt. Die Operation wiederholte man noch zwei Mal. Als die Ohren «endlich», so die Mutter, «frei waren, begann das Theater mit der Nase. Auch die war ständig voll Rotz. Jessica röchelte, konnte schlecht atmen, schnarchte nachts laut. Aber wir brauchten wenigstens nicht operieren zu lassen. Mit sieben kamen die Mandeln raus, die ständig entzündet waren.» Die Mutter blickt mich unsicher an. «Aber nun ist Jessica alle naselang krank, mal hat sie Schnupfen, dann Fieber. Wenn irgendetwas bevorsteht, dann ist mit Jessica etwas. Darauf kann man sich wirklich verlassen!»
Jessica ist auf Veranlassung des Arztes in die Beratung gekommen, weil er sich um ihre Anfälligkeit sorgte. Bei dem Gespräch stellte sich bald heraus, dass Jessica unter den hohen Erwartungen ihrer Eltern litt. Sie hatte noch zwei Brüder, die «nur» die Realschule besuchten – sehr zur Enttäuschung von Mutter wie Vater, die sich «einfach mehr erwartet hatten».
«Aber Jessica, die muss es jetzt schaffen. Die hat’s doch vom Kopf her drauf», wie der Vater meinte, «die kann es doch, wenn sie nur nicht immer krank wäre. Nun versäumt sie so viel. Und wir müssen das zu Hause nachholen. Natürlich hat sie dann kaum Freizeit. Aber was soll man anderes machen?»
Jessica wurde vor den Klassenarbeiten regelmäßig krank,eben genau dann, wenn die von den Eltern formulierten Anforderungen besonders groß waren. Es schien fast, als versagte Jessicas Körper seine Dienste, als rebellierte er gegen den ständigen Druck, der auf ihm lastete. Als verordnete er sich durch die Operationen und Krankheiten eine Ruhepause.
Für ein Kind wie Jessica ist es besonders wichtig, den elterlichen Erwartungsdruck zu
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