Pubertät – Loslassen und Haltgeben
Position muss authentisch vertreten werden. Jugendliche anzunehmen, Verständnis für Handlungenund Meinungen zu entwickeln, darf nicht dazu führen, alles und jedes zu akzeptieren. Manchmal wollen Pubertierende nicht einmal Verständnis, sondern provozieren mit Witzen, geradezu menschenverachtenden Äußerungen und gewaltverherrlichenden Symbolen.
Heiner Albers ist Ausländerbeauftragter seiner Stadt. Er sitzt im Wohnzimmer, liest Zeitung, als sein 1 3-jähriger Sohn Sven den Raum betritt. Heiner Albers ist gut drauf, hat an diesem Tag gerade ein multikulturelles Gemeindezentrum eröffnet und ist für sein Engagement von allen Seiten gelobt worden.
«Guten Abend!», sagt Sven.
«’n Abend», erwidert der Vater, seine Zeitung nur kurz beiseitelegend. Sven bleibt vor seinem Vater stehen.
«Hast du heute die Villa für die Türken eröffnet?», stellt Sven mehr kommentierend als fragend fest.
Heiner Albers überhört den Satz. Sven ist wieder mal auf Provokationskurs.
«Hast du den scheiß Türken heute die Marmorvilla gegeben?», insistiert Sven hartnäckig, sein Ton wird lauter und polternder.
Heiner Albers legt die Zeitung beiseite: «Was soll das, Sven? Was willst du? Mich anmachen?» Er wirkt äußerst ruhig und beherrscht.
«Denen steckst du alles in den Arsch, diesen islamischen Ärschen. Alles!»
Heiner Albers sieht seinen Sohn fest an und sagt sehr bestimmt: «Hey, was soll das? Du gehst beim Türken essen, hast türkische Freunde. Letztes Jahr warst du in der Türkei im Urlaub.» – «War ja auch Scheiße», platzt Sven dazwischen. «Absolute Scheiße!»
«Dir hat’s gefallen, da wolltest du wieder hin!»
«Hab ich nie gesagt!»
«Gut, hast du nie gesagt», meint der Vater beschwichtigend.
«Hab ich gesagt! Aber jetzt will ich nicht mehr hin. Scheiß Türken! Du bist ja auch schon ein halber Türke!»
«Es brodelte in mir», erinnert sich der Vater später. «Aber ich hatte auf einem Seminar ‹Mit Jugendlichen richtig reden› gelernt: Lass dich nicht provozieren. Geh in deine innere Mitte, zähle bis zehn, bevor du etwas sagst. Zur Unterstützung sollte man die rechte Hand auf das Herz legen und sagen: ‹Ich bin ganz ruhig!› Es hatte ja durchaus ein paar Mal geholfen.» Heiner Albers lacht: «Und während ich meine Mitte suchte, trieb Sven mich weiter an den Abgrund. Er redete sich und mich richtig in Rage.»
Sven provoziert weiter. Heiner Albers bleibt weiterhin ruhig, aber «innerlich brodelte es in mir. Da war nichts mehr mit innerer Mitte, mein Hals wurde immer dicker, ich stand kurz vor der Explosion.» Dann setzt Sven zum Vernichtungsschlag an, als er die Röte im Gesicht seines Vaters bemerkt und sieht, wie dessen Lippen schmaler werden und beben: «Die gehören alle ins Meer gejagt!»
Heiner Albers springt auf und schreit lauthals: «Aus! Schluss!» Er weist auf die Tür. «Raus! Geh raus! Sofort!» Seine Stimme überschlägt sich: «Raus! Sonst vergesse ich mich!»
Provozierend langsam dreht sich Sven ab: «Ist o. k. Ich wollte sowieso gehen. Hier stinkt es nach Knoblauch!»
Heiner Albers lässt sich erschöpft in den Sessel fallen, murmelt etwas von «scheiß Erziehung!», bemitleidet sich ein wenig selbst. «Womit habe ich das verdient!» Hinterher meint er: «Ich war nach dem Schreien auch erleichtert. Das war wie ein reinigendes Gewitter!»
Zwei Stunden später. Der Vater klopft an Svens Zimmertür. Als er ein «Herein!» hört, öffnet er die Tür, sieht seinen Sohn friedlich-lässig auf dem Bett liegen. Sven liest ein Buch über Anne Frank.
«Wie gefällt’s dir?»
«Toll», antwortet Sven. «Duftes Mädchen!»
«Ich möchte mich entschuldigen», beginnt Heiner Albers das Gespräch.
«Wofür?»
«Für meinen Aussetzer! War nicht in Ordnung! Aber du hast mich provoziert, und was du über Türken gesagt hast, war absolut daneben. Absolut!»
«Weiß ich!»
Heiner Albers stutzt. Sven sieht ernst seinen Vater an. «Du, Papa, wenn ich mit dir streiten möchte, dann streite mit mir und meditiere nicht!» Der Vater ist kurzzeitig irritiert, dann lächelt er verlegen. «Du, Papa …»
«… Ja?»
«Gehen wir zum sch …», Sven stockt und verbessert sich, «lädst du mich zum Türken ein, ich hab Hunger! Dort gibt’s das beste Essen!»
Diese Auseinandersetzung zeigt, wie Jugendliche sich reiben, sich messen wollen. Sie provozieren Streit darüber, was gut und böse, moralisch und unmoralisch, richtig und falsch, verletzend und heilend ist.
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