Puna - Toedliche Spurensuche
war ein altmodisches Telefon. Für einen Augenblick vertröstet sie den ersten Gesprächspartner, nahm das zweite Gespräch entgegen. Danach beendete sie sehr kurz das erste Gespräch und unterhielt sich nur noch mit dem zweiten Gesprächsteilnehmer. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Anja bewunderte deren Gelassenheit. »Señora Koswiehk, Ihr Gepäck ist am Flugplatz aufgetaucht«. Evelin telefonierte unterdessen weiter. Anja hatte den Überblick verloren, das wievielte Gespräch Evelin nun führte. Gegen 18 Uhr könnte es ins Hotel gebracht werden. Anja bedankte sich für die Mühe. Auf die Frage, ob die Supervisorin noch etwas für sie tun könnte, fragte sie, wo die zerschundene Landschaft die auf einem der Plakate zu sehen sei, sich befände. Evelin erklärt, dass das das Valle de la Luna sei. Sie könne gerne für Anja ein Taxi rufen - quasi als Wiedergutmachung. Noch einmal griff sie zum Telefon.
Wenige Augenblicke später ging die Tür auf und ein Mann mittleren Alters trat ein. Er war sehr groß, dabei aber sehr hager gebaut. Er hatte schwarz-graue Haare. Seine Haut war braun. Er sprach Evelin an und ging kurz darauf zu Anja. Er erklärte ihr, dass er sie zum Valle de la Luna bringen würde. Seine kleinen Augen sahen lustig aus. Wenn er sprach, fiel auf, dass ihm seine beiden oberen Schneidezähne fehlten. Rudolfo, so hieß er, war ein lustiger Mensch. Er redete und lachte gerne. Anja bedankte sich kurz bei Evelin und folgte ihm.
Das Taxi war ein weißer Kleinwagen. Das Wort klein wurde insofern auch neu definiert, weil Rudolfo bereits an die Wagendecke anstieß, als er ins Auto stieg. Das Taxi war sauber. Auf dem Armaturenbrett lag ein weißlicher Teppichläufer. Vom Rückspiegel hing ein gekreuzigter Jesus. Rudolfo war Anja beim Einsteigen behilflich. Dann eilte er ums Auto und stieg ein. Er startete den Motor, hupte und fuhr los, ohne in den Rückspiegel zu schauen. Der Verkehr hatte mittlerweile stark zugenommen. Aber das störte ihn nicht. Fuhren sie an einer Kirche vorbei, nahm er kurz den Fuß vom Gas, bekreuzigte sich flüchtig und fuhr weiter.
Die Fahrt führte ca. 10 Kilometer aus La Paz heraus. Anja begann eine Unterhaltung mit ihm. Um für den Rückweg nicht ohne Fahrzeug dazustehen, fragte sie ihn, ob er dort warten könne. Schließlich einigten sie sich darauf, dass er für den Rest des Tages als Fahrer fungieren würde. Der Preis war akzeptabel. Er sollte Anja etwas von La Paz zeigen.
Rudolfo wollte wissen, ob Anja Kinder hätte. Sie verneinte. Kinder waren für sie ein wunder Punkt. Sie hätte sehr gerne welche. Aber sie wusste auch, dass sie nie welche haben würde. Wenn sich eine Freundschaft so weit entwickelt hatte, dass die Frage nach eigenen Kindern im Raum stand, blieb ihr regelmäßig die Luft weg und sie bekam feuchte Hände. Nein! Ihre Entscheidung hatte sie früh gefällt. Wie sie fand, aus der Verantwortung den Kindern gegenüber. Eine hundertprozentige Sicherheit dafür, dass ein solcher Schritt notwendig sei, bestand nicht. Im Gegenteil. Rein vernunftmäßig wäre er nicht notwendig gewesen.
Anjas ältere Schwester, Katharina, litt an einer sehr seltenen Erbkrankheit. Morbus Fabry, eine angeborene Stoffwechselerkrankung. Nach der Geburt schien noch alles in Ordnung zu sein. Wenige Jahre später, Anja war mittlerweile auch geboren, stellt sich das Debakel heraus. Morbus Fabry wurde diagnostiziert und damit war das Ende der intakten Familie Koswig besiegelt. Wie weitere Tests ergaben, waren weder Anjas Mutter noch Anjas Vater Träger eines derartig defekten X-Chromosoms. Morbus Fabry wird aber nur über X-Chromosomen weiter gegeben. Anja hatte später unzählige Male den Stammbaum aus Sicht der Vererbungslehre analysiert. Wäre Anjas Vater Träger gewesen, hätten beide Töchter ebenfalls das Chromosom weiter vererbt bekommen. Hätten sie noch einen Bruder gehabt, so hätte dieser vom Vater das Y-Chromosom erhalten und damit wäre der Vererbungspfad unterbrochen gewesen. Wäre die Mutter Trägerin eines solchen Gens gewesen, hätte sie entweder das intakte oder das defekte X-Chromosom weitergeben können. Damit wäre für alle Kinder das Risiko gleich groß gewesen. Das Debakel, das über diese Krankheit herauskam, war der Seitensprung mit Mark. Eine einmalige Sache. Sie hatten sich seit dem nicht mehr gesehen. Mark wusste noch nicht einmal von Katharinas Existenz. Diese einzige Untreue, so sagte jedenfalls ihre Mutter, war mit Katharina dokumentiert.
Für Anjas
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