Puppenbraut
Vermutlich war es das übliche Bild, welches man am Sonntag gegen Vormittag zu sehen bekam. Die Eltern schickten ihren Nachwuchs ruhigen Gewissens in den Buchladen, um sorglos zu entspannen. Denn während der Park an sich mittlerweile als gefährlich galt, bot diese Ecke die perfekte, pädagogisch vertretbare Sicherheit.
Doreen konnte sich ruhigen Herzens auf die Suche nach einem Buch machen, ohne sich dem Risiko zu stellen, von irgendeinem Verkäufer angesprochen zu werden.
Die Regale dieses Bereiches waren, wie gewöhnlich, nach Themen angeordnet. „Biografien, Lexika, klassische Literatur“, las Doreen halblaut. „Thriller, jawohl!“ Sie ließ ihren Blick über das Angebot schweifen.
Bewaffnet mit einem Stapel voller Bücher setzte sie sich in einen Ohrensessel neben einem großen Tisch und begann, sich in die Geschichten einzulesen. ‘Bevor wir Raffaella treffen werden, haben wir noch ungefähr eine Stunde Zeit. Der Zoo ist auch gar nicht soweit von der Buchhandlung entfernt.’ Mit dieser Überlegung nahm sie das erste Buch von dem Stapel in die Hand und blätterte darin.
Während sie sich in die Geschichten vertiefte, merkte sie nicht, wie ein aufmerksames Augenpaar sie verfolgte. Sie war es! Genau sie, die er auserwählt hatte, seiner Hochzeit beizuwohnen.
‘Sie wird Zoeys Pflegemutter – genauso wie bei mir!’ Der Gedanke erregte ihn. Noch nie hatte er eine Pflegemutter dabei gehabt. ‘Darum waren die Bräute falsch!’ Die Wollust stieg in ihm hoch. Es hatte sich doch gelohnt, ihr den ganzen Vormittag aufzulauern. Beinahe hätte er sie auf der Straße verloren, doch dann sah er, dass sie den bekannten Weg wählte. Eine Vorsehung, dass er sie von dort mitnehmen würde, wo er Zoey auch verführte. Offenbar glaubte auch sie, dass er sie brauchte. Diesmal war also alles, wirklich alles, vollkommen!
Doch Doreen Bertani würde keine so leichte Beute wie Zoey für ihn sein, das war ihm schon klar. Er hatte vorsichtshalber den Rollstuhl im Auto deponiert.
Zudem hatte sie einen sehr starken Kampfgeist. Und auch ihre verdammte Beobachtungsgabe. Diesmal musste alles minutiös geplant werden. Doreen würde ihm nicht – wie alle seine freiwilligen Mädchen - folgen. Erstaunlicherweise bereitete ihm diesmal genau diese Tatsache Freude. Ja, es erregte ihn sogar noch mehr, zu wissen, dass sie so ahnungslos in diesem bequemen Sessel saß, den sie bald gegen das alte Bett seiner Bleibe tauschen würde. In ihm stieg die Quelle seines Daseins hoch: der Jagdinstinkt.
Zuvor war eine Sache zu klären. Er schaute auf den Bücherstapel, der vor Doreen lag, und seine Miene erheiterte sich. Nur fünfzehn Minuten braucht er jetzt, in denen er sie aus den Augen lassen würde. Mehr nicht! Eine Kleinigkeit musste erledigt werden, bevor er sie endgültig mitnehmen würde. Der Lesestoff sah eher nach einer halben Stunde aus! Er hatte also noch ausreichend Zeit.
*****
„Verpiss dich, Alter! Ich will dich hier nicht mehr sehen!“ Eine gedämpfte Stimme aus der Wand warf Doreen aus dem Buch, das sie gerade las. Entgeistert schaute sie sich um. An der Wand in der hinteren Ecke befand sich eine Tür, die sie erst jetzt bemerkt hatte. ‘Sicherlich ein kleines Lager oder Angestelltenbüro’, vermutete sie. Gespannt lauschte sie weiter.
„Ey! Ich kann nichts dafür, Alter! Sei mal ein netter Bruder! Ich brauche diesen Job, Mann! Wer will schon so einen wie mich einstellen? Einen Ex-Knacki!“
„Neee! Ich habe genug für dich gelogen! Jetzt reicht’s mir! Mann, hier kommen Eltern mit Kindern her! Im Park ist ein Kind verschwunden, weshalb die Bullen genau dich grade verhaftet haben! Ich musste für dich lügen, Alter! Verpiss dich endlich! Ich will dich nie wiedersehen! Bruder! Bruder nennst du mich? Dass ich nicht lache! Ich bin kein Bruder, sondern dein verdammtes Kindermädchen! Aber ab jetzt nicht mehr! Ich will dich nie wieder sehen! Raus hier!“, grollte die Stimme immer aufgeregter.
‘Das klingt alles nach dem Inhaber des Ladens. Ein Angestellter würde einen solchen Streit nicht wagen. Doch wer war der andere?’, überlegte Doreen krampfhaft. ‘Einer, den die Bullen verhafteten? War es nicht... Dwane Harper? Der Typ, der wegen der früheren Auffälligkeit für Kinderpornografie verhaftet wurde?’ Sie spürte plötzlich, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Als die kleine Tür noch mit Schwung aufflog, schnürte sich ihr die Kehle zu. Die aufsteigende Panik löste bei ihr mal wieder die
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