Puppenfluch

Irina, die sich von ihrem Schreck erholt hatte und schon nicht mehr so ängstlich war.
    Ob diese Person hier wohnte? In einer Baracke am Flugplatz?
    Für Irina lag darin nichts Ungewöhnliches – wo sie herkam, lebten die Menschen an viel seltsameren Orten.
    »I am Siri« , sagte die Stimme.
    Siri – war das ein Mädchen- oder ein Jungenname?
    »Come inside, Irina!«
    Die Tür ging auf. Irina stand steif gefroren auf, mehr als dankbar dafür, endlich ins Warme zu kommen.
    »Machen wir kein Licht an?«, fragte sie.
    Im schwachen Schein des elektrischen Lichterbogens schüttelte Siri energisch den Kopf.
    » No! «, sagte sie und schloss die Tür hinter sich ab.
    Jetzt konnte Irina Siris Figur unter dem eng anliegendenPullover erkennen und sah, dass sie es mit einem Mädchen zu tun hatte, nicht viel jünger als sie selbst.
    »Kein Licht«, sagte Siri. »Niemand darf uns hier sehen. Warum bist du hergekommen?«
    In gebrochenem Englisch versuchte Irina, alles zu erklären und Siri hörte ihr zu.
    »Jetzt warte ich darauf, dass ich abgeholt werde«, schloss sie ihren Bericht. »Ich frage mich, wie lange das noch dauern soll?«
    »Hör zu, Irina«, begann Siri. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Sie beugte sich vor und sah Irina intensiv an.
    »Du musst mit mir nach Hause kommen.«
    »Wohnst du nicht hier?« Irina wunderte sich.
    »Hier?«, Siri musste lachen. »Nein, das hier ist ... ist ...«
    Sie suchte vergeblich nach dem englischen Wort.
    »Ich habe hier Wache gehalten«, sagte sie. »Du darfst auf keinen Fall mit dem Mann mitgehen, der gleich kommen wird!«
    Sie hatte sich vorgebeugt und ihre Hand auf Irinas Arm gelegt, jetzt krallten sich ihre Finger so fest, dass es wehtat. Mit einem Ruck zog Irina ihren Arm weg.
    »Wie meinst du das?«, sagte sie. »Ich soll nicht mit Olegs Freund mitgehen, der mich abholen kommt?«
    »Nein!«, sagte Siri. »Es ist nicht so, wie du glaubst.Auf dieselbe Weise wie du ist vor ein paar Tagen schon ein anderes Mädchen gekommen. Sie haben sie geschlagen und jetzt ist sie verschwunden!«
    Irina betrachtete Siri aufmerksam.
    »Aber das kann nicht dasselbe Flugzeug gewesen sein«, sagte sie.
    Siri riss die Augen auf.
    »Doch, dasselbe Flugzeug, mitten in der Nacht«, beharrte sie.
    Irina zögerte. Das klang zu verrückt. Warum sollte ihr Freund sie zu solchen Menschen schicken? Andererseits bestand kein Zweifel daran, dass diese Siri es ernst meinte. Vielleicht hatte sie recht und irgendetwas stimmte nicht? Im Geheimen hatte sie schon die ganze Zeit gedacht, dass es einfach zu gut für sie lief. Alles ging zu glatt, sie hatte zu großes Glück ... Sicher, es gab ein paar Dinge, die ihr seltsam vorkamen, wenn sie länger darüber nachdachte – zum Beispiel, dass der Pilot Oleg gar nicht gekannt hatte.
    Plötzlich bemerkte sie, wie Siri erstarrte.
    »Er kommt!«, sagte Siri mit dumpfer Stimme.
    Irina hörte das Quietschen des Tors drüben am Zaun und sah, wie sich die Scheinwerfer eines Autos näherten.
    »Schnell! Hier rein!«, rief Siri und schob sie in ein Büro.
    Irina zögerte. Aber das Auto kam doch, um sie abzuholen! Sollte sie diesem Mädchen wirklich vertrauen?
    »Irina! Du musst! Es geht um uns beide!«, zischte Siri.
    Sie zog Irina hinter sich her und Irina gab nach und fügte sich, ohne zu wissen warum.
    Draußen schlug eine Autotür.
    »Schnell, unter den Schreibtisch! Das ist die einzige Stelle, die man vom Fenster aus nicht sehen kann«, flüsterte Siri heiser.
    Sie krochen beide unter den Schreibtisch und drückten sich aneinander wie zwei kleine, ängstliche Mäuse. Die Wände der Baracke waren nicht sehr dick. Sie hörten, wie draußen jemand herumlief.
    »Hallo? Hallo?«, rief eine Männerstimme gedämpft.
    Die Schritte entfernten sich und wieder hörten sie das Geräusch der Autotür.
    »Er fährt«, flüsterte Irina fast lautlos.
    Warnend legte Siri eine kaltschweißige Handfläche auf Irinas Handrücken und sie verstummte sofort. Die Schritte kamen zurück und hielten vor dem Fenster an. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit in dem kleinen Büro, wanderte suchend über die Wände und in die Ecken. Irina verbarg ihr Gesicht an Siris Schulter. Sie saßen ganz still, fast ohne zu atmen, und die Sekunden kamen ihnen vor wie eine Ewigkeit.
    Dann spürte sie plötzlich, wie Siri aufatmete und sich neben ihr entspannte.
    »Irina«, sagte sie leise. »Er ist weg.«
    Langsam hob Irina den Blick und sah, wie sich ein kleines, zufriedenes Lächeln auf Siris