Puppenfluch
anderen, die Ivana hieß und schon achtzehn war, ein Jahr älter als Irina selbst. Als sie sich darüber beschwerte, zuckte Oleg mit den Schultern und sah zum ersten Mal genervt aus.
Vor der Abreise hatte sie sich die Haare schneiden lassen. Sie hatte sich ihre besten Sachen angezogen und sich sorgfältig geschminkt. Es war ihr egal, dasssie mitten in der Nacht ankommen würde, sie wollte gut aussehen, wenn sie das neue Land betrat.
Mit brennenden Augen starrte sie hinaus in die Dunkelheit. Über ihnen funkelte der Sternenhimmel – von hier aus war er viel besser zu sehen als von den Straßen Kaliningrads. Das Flugzeug sank und die Straßenlaternen dort unten wirkten wie eine lange, geschwungene Perlenkette. Sie schluckte schwer.
Das ist das Leben, dachte sie. Das ist das Abenteuer. Hier komme ich.
Der Flugplatz war klein und dunkel. Der Pilot ließ das Flugzeug zu einer abgelegenen Baracke rollen, wo ein einsamer Scheinwerfer orangefarbenes Licht über sie goss. Der Rest lag in Dunkelheit. Der Pilot machte den Motor aus und sie nahmen die Kopfhörer ab.
»Bleib sitzen«, sagte er freundlich auf Englisch. »Sie sind noch nicht da. Draußen ist es kalt.«
Sie lehnte sich wieder zurück. Innerlich kribbelte alles vor Ungeduld und Anspannung. Bald würde einer von Olegs Freunden sie abholen.
Sie warteten. Langsam fing der Pilot an, unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen. Er sprang aus dem Flugzeug und sah sich um. Sie drückte die Tür auf und stieg ebenfalls aus. Die Luft war wunderbar, klirrend klar und frostig.
»Kannst du nicht anrufen?«, fragte sie den Piloten.
»Sorry. Ich habe keine Telefonnummer«, antwortete er.
»Aber du hast doch sicher wenigstens Olegs Handynummer?«, fragte Irina.
Der Pilot schüttelte den Kopf. »Wer ist Oleg?«
Irina starrte ihn an. Oleg hatte doch gesagt, der Pilot wäre sein Freund? Warum kannte er ihn nicht?
»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Pilot. »Sie kommen sicher jeden Augenblick, um dich abzuholen. Ich muss weiter, aber bleib du einfach hier. Im Laufe der nächsten halben Stunde tauchen sie auf. Das tun sie immer.«
Irina nickte und nahm ihre Tasche aus dem Flugzeug. Der Pilot hob die Hand.
»Bye«, sagte er ein wenig unsicher.
»Bye«, sagte Irina.
Sie zog sich zurück und er ließ den Motor an.
Das tun sie immer. Was hatte er damit gemeint?
Irina stand ganz still da, die Tasche neben sich, und schaute dem Flugzeug nach, bis es nicht mehr zu erkennen war. Sie rieb sich mit dem Handrücken die Nase, die vor Kälte brannte. Dann hüpfte sie auf und ab, lief hin und her und ließ dabei die Arme kreisen. Sie hatte ihre guten Schuhe anstelle der abgetragenen Winterstiefel angezogen und das bereute siejetzt. Sie spürte ihre Zehen kaum mehr. Spontan entschied sie sich, auf eigene Faust loszugehen. Genau da, wo das Licht des Scheinwerfers dunkler wurde, konnte sie eine Tür im Zaun erahnen. Entschlossen nahm sie ihre Tasche und marschierte los. Sie würde es auch alleine zu diesem Restaurant in Stockholm schaffen – so schwierig konnte das doch nicht sein!
Als sie vor dem Tor stand, musste sie feststellen, dass es mit einem stabilen Vorhängeschloss verschlossen war.
Irina fror. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als doch noch weiter zu warten. Mit der Tasche in der Hand ging sie zurück zur Baracke. Dort waren zwei Türen nebeneinander. »Axelsson-Flüge« stand auf der einen, »Flugverein« auf der anderen. Was mochten diese Worte bedeuten? Sie rüttelte prüfend an beiden Klinken, aber natürlich war abgeschlossen. Irina seufzte tief und ließ sich zitternd vor Kälte auf die Treppe sinken.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich und fuhr erschrocken zusammen. Ein Klicken, als würde ein Schloss entriegelt. Irina drehte sich hastig um. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es der einzige Laut war, den sie noch hörte.
Vorsichtig bewegte sich eine der Klinken nach unten und langsam, ganz langsam glitt die Tür ein paar Zentimeter auf. In Irinas Ohren pochte es. Ein blassesGesicht tauchte im Türspalt auf und große, ängstliche Augen glänzten im Halbdunkel.
Dann sagte eine unsichere leise Stimme: » Hello? «
Irina versuchte zu antworten, aber ihre eigene Stimme schien auch verschwunden zu sein. Sie räusperte sich mit einiger Kraftanstrengung und sagte ebenfalls:
» Hello .«
Die Tür ging ein Stück weiter auf und eine junge, schmale Gestalt wurde sichtbar.
»Wie heißt du?«, fragte die Person auf Englisch.
»Irina«, sagte
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