Puppenrache
konnte und keine Angst hatte? Dass ich zu den Beliebtesten in meiner Klasse gehörte? Dass ich aufs College gehen und später Tierärztin werden wollte? Und dass ich Kinder haben wollte. Mindestens vier. Und einen netten Mann, der auch Tierarzt ist. So hab ich mir mein Leben vorgestellt.
Aber an einem Nachmittag wurde alles zerstört.
Seitdem es passiert ist, hab ich keine Träume mehr. Nur noch Albträume.
Ich lebe… ein verlorenes Leben, Stephen…
Ich hab dir deine Zeit gestohlen… ich…
Sie zog die Beine an, kauerte sich eng in die Couchecke und schlang die Arme um die Knie. Ihr war so, so, so kalt.
Es war stockfinster, als sie wach wurde. Da erst merkte sie, dass sie auf der Couch in ihrer Embryostellung eingeschlafen war.
Die Tränen waren auf ihren Wangen getrocknet und die Haut spannte an den Stellen. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sie wieder hatte weinen können. Und es war, als wäre in ihr ein Damm gebrochen. Als hätten die Ereignisse der letzten Tage auch Zurückliegendes an die Oberfläche gespült. Nun fühlte sie sich taub und leer. Der Schmerz und die Angst waren weg. Doch an ihre Stelle war einfach nur eine dumpfe Leere getreten.
Ich darf nicht mehr so viel an die Vergangenheit denken, sagte sie zu sich. Alles wird sonst nur noch schlimmer.
Sie erhob sich und tastete an der Wand nach einem Lichtschalter. Ein gelbes Licht aus einer Röhre hinter der Vorhangblende sprang an und ließ die geschmacklose, heruntergekommene Einrichtung nun auch noch vergilbt erscheinen: die braun-beige gemusterten Vorhänge, die moosgrüne, abgewetzte Couch, der wacklige Couchtisch, von dem sich das Furnier löste, und die blasse altrosa Tapete.
In der Küche standen noch die beiden Tüten, die sie nicht ausgepackt hatte, genauso wie ihre Reisetasche, die im Schlafzimmer sein musste. Sie räumte kurzerhand alle Lebensmittel in den Kühlschrank. Sie wollte gar nicht erst wissen, in welchem Zustand die Küchenschränke waren und welchen Geruch sie ausdünsteten, und ließ sie lieber geschlossen.
Jetzt war sie hellwach. Sie nahm ein Joghurt und setzte sich an den kleinen, eckigen Küchentisch mit der verkratzten Resopalplatte. Sie hätte so gern ihre Mutter angerufen. Manchmal war das Heimweh so stark. Aber man musste immer vorsichtig sein. Und ihre Mutter rief sie dennoch ab und zu an. Sie stand wieder auf, suchte in einer der Schubladen nach einem Löffel und ging damit ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich wieder auf die Couch setzte und den Fernseher anschaltete.
Sie schaffte es nicht, rechtzeitig zum nächsten Programm zu zappen. Er war in den Nachrichten. Sein Bild. Und die Nachrichtensprecherin nannte gerade seinen Namen. Troy H.
Er wurde immer noch gesucht. Bevor die Sprecherin etwas über seine Verbrechen sagen konnte, hatte Sara schon weggeschaltet.
Sie starrte in den flimmernden Bildschirm und drehte die Lautstärke noch ein bisschen höher. Erst als der Morgen graute, legte sie sich ins Bett.
12
Halb zehn hielt er für eine gute Zeit. Wenn sie nicht abnehmen würde, wäre sie entweder schon aus dem Haus gegangen oder sie würde noch schlafen. Dann würde er es einfach weiter probieren.
Stephen rief die Nummer aus Brisbane im Speicher ab und drückte auf Wählen. Bis der Ruf durchging und das erste Freizeichen ertönte, erschien ihm unendlich lang. Zweimal, dreimal, viermal. Seine Hoffnung schwand. Auch nach dem achten und neunten Mal nahm niemand ab. Vielleicht hatte der andere Apparat auch ein Display, auf dem seine Nummer erschien – und die Frau wollte einfach nicht noch mal mit ihm reden. Enttäuscht legte er auf.
Wieder zog er den zerknitterten und inzwischen schon angerissenen Zettel aus der Tasche. Er trug ihn mit sich, als könnte er ihm helfen, Sara wiederzufinden. Je öfter er ihn betrachtete, umso sicherer wurde er, dass Sara sich in großer Gefahr fühlte.
Er schnappte sich ein Couchkissen und schleuderte es voller Wut auf den Boden. Vor Verzweiflung hätte er jetzt am liebsten die ganze Wohnung zertrümmert! Was zum Teufel sollte er bloß tun, um Sara zu finden? Sie hatte auch keine Freunde, die er hätte fragen können. Hatte sie irgendwann mal Schulfreundinnen oder so was wie eine »beste« Freundin erwähnt? Nicht dass er wüsste. Ja, selbst im Supermarkt, wo sie doch jeden Tag arbeitete, wusste niemand etwas über sie.
Noch nie war ihm so klar geworden wie jetzt, dass sie völlig isoliert gelebt hatte. Nur mit ihm. Und hin und wieder war sie mit ihm und
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