Puppenspiel - Inspektor Rebus 12
zu dem Mordfall Philippa Balfour sogar Prähistorie. Ob der Mörder etwas über die Särge vom Arthur's Seat gewusst hatte oder nicht, schien völlig belanglos. Es ließ sich ohnehin nicht entscheiden. Sie stellte ihre Recherchen zum eigenen Vergnügen an, wollte nicht, dass John da irgendetwas hineininterpretierte. Er hatte schon genug Probleme.
Sie hörte draußen auf dem Gang ein Geräusch. Doch dann schaltete der Wasserkocher sich aus, und sie dachte nicht mehr daran. Goss Wasser in die Tasse, tauchte den Teebeutel ein paar Mal hinein und warf ihn dann in den Mülleimer. Ging mit der Tasse wieder in ihr Büro und ließ die Tür offen.
Kennet Lovell war im Dezember 1822 im Alter von gerade mal fünfzehn Jahren nach Edinburgh gekommen. Natürlich wusste sie nicht, ob er per Postkutsche gereist oder zu Fuß gegangen war. Nicht ungewöhnlich in jenen Tagen, dass jemand eine solche Strecke zu Fuß zurückgelegt hatte, besonders wenn das Geld knapp war. Ein Historiker, der über Burke und Hare gearbeitet hatte, stellte in seinem Buch die Vermutung an, dass Reverend Kirkpatrick für Lovells Reisekosten aufgekommen war und ihm sogar ein Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte, und zwar an einen Dr. Knox, mit dem er befreundet war. Knox war damals gerade erst nach Schottland zurückgekehrt, nachdem er zuvor als Militärarzt in Waterloo gearbeitet und in Afrika und in Paris Studien getrieben hatte. Jedenfalls war Lovell während seines ersten Jahres in Edinburgh bei diesem Mann untergekommen. Doch dann hatte er angefangen zu studieren, und die beiden hatten sich offenbar entfremdet. Jedenfalls hatte sich Lovell irgendwo im West Port eine Wohnung gesucht...
Jean trank von ihrem Tee und blätterte in den Fotokopiennirgends eine Fußnote oder ein Verweis, nichts, woraus sich auf die Herkunft dieser Behauptungen schließen ließe. Da sie sich von Berufs wegen mit volkstümlichen religiösen und magischen Vorstellungen beschäftigte, wusste sie, wie schwierig es war, den Weizen der historischen Tatsachen von der Spreu der Gerüchte zu trennen. Es kam häufig genug vor, dass solche Gerüchte und Irrtümer sich durch die Literatur immer weiter verbreiteten. Deswegen ärgerte es sie, dass sie den Wahrheitsgehalt ihrer Texte nicht überprüfen konnte, also zunächst mal für bare Münze nehmen musste, was sie dort an Behauptungen vorfand. Im Fall Burke/Hare hatten sich gleich mehrere zeitgenössische »Experten« dazu gedrängt gefühlt, ihre einzig richtige Sicht der Dinge an die Nachwelt zu überliefern.
Aber deshalb musste sie das noch lange nicht glauben.
Und was noch frustrierender war: Kennet Lovell spielte in der Burke-Hare-Geschichte nur eine Nebenrolle und tauchte lediglich in der einen grausigen Obduktionsszene auf. In der Edinburgher Medizingeschichte war seine Rolle sogar noch unbedeutender. Seine Biografíe war lückenhaft. Jeans umfangreiche Lektüre verschaffte ihr lediglich die Erkenntnis, dass Lovell nach dem Studium Dozent und gleichzeitig Praktiker gewesen war. Er hatte Burkes Obduktion als Zuschauer beigewohnt. Drei Jahre später war er in Afrika gewesen, wo er die Anwendung seiner dort dringend benötigten medizinischen Kenntnisse mit christlicher Missionsarbeit verbunden hatte. Wie lange er dort geblieben war, ging aus den Unterlagen nicht hervor. 1848/49 war er wieder in Edinburgh aufgetaucht und hatte in der Neustadt eine Praxis eröffnet, die hauptsächlich von der dort ansässigen wohlhabenden Klientel frequentiert wurde. Einer der Biografen äußerte die Vermutung, dass Reverend Kirkpatrick seinem ehemaligen Schüler einen Großteil seines Vermögens vermacht hatte. Offenbar hatte sich Lovell nämlich »bei diesem Gentleman dank einer regen Korrespondenz über die Jahre in guter Erinnerung gehalten«. Natürlich hätte Jean die Briefe gern einges hen, doch die Bücher, die ihr vorlagen, zitierten alle nicht da aus. Sie beschloss, den Versuch zu unternehmen, die verschollene Korrespondenz aufzuspüren, und machte sich eine entsprechende Notiz. Möglich, dass die Briefe in Lovells heimatlicher Kirchengemeinde in Ayrshire verwahrt wurden oder aber, dass jemand in der Surgeon's Hall ihr weiterhelfen konnte. Obwohl es auch gut sein konnte, dass die Schreiben nicht wieder auftauchten. Entweder weil sie bereits unmittelbar nach Lovells Tod verschwunden waren oder aber sich inzwischen in Übersee befanden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte eine wahre Flut historischer Dokumente den Weg in Sammlungen
Weitere Kostenlose Bücher