Puppenspiel - Inspektor Rebus 12
jenseits des Atlantiks gefunden, vor allem nach Kanada und in die USA... Da es sich in vielen Fällen um Privatsammlungen handelte, waren sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Jean hatte schon so manche interessante Spur verloren, weil sich der Verbleib eines Briefs oder Dokuments nicht mehr hatte aufklären lassen. Dann fiel ihr plötzlich wieder Professor Devlin ein und sein angeblich von Lovell gebauter Esstisch. Von Lovell, der laut Devlin in seiner Freizeit geschreinert hatte... Wieder blätterte sie in den Papieren, obwohl sie genau wusste, dass dort von einem solchen Hobby nirgends die Rede war. Also musste Devlin entweder von einem Buch oder einer sonstigen Quelle Kenntnis haben, die ihr bisher entgangen war, oder aber er setzte bloß Märchen in die Welt. Auch das kannte sie zur Genüge: Leute, die »einfach wussten«, dass eine alte Preziose, die sich zufällig in ihrem Besitz befand, früher mal Bonnie Prinz Charlie oder Sir Walter Scott gehört hatte. Wenn es außer Devlins Behauptung keinen Beleg dafür gab, dass Lovell gerne geschreinert hatte, war die gesamte Theorie hinfällig, derzufolge er die Särge auf dem Arthur's Seat deponiert hatte. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und war verärgert über sich selbst. Sie war die ganze Zeit von einer Voraussetzung ausgegangen, die sich ohne weiteres als falsch erweisen konnte. Lovell war 1832 aus Edinburgh verschwunden, und die Jungen hatten die Höhle mit den Särgen zufällig im Juni 1836 entdeckt. Konnten die Kisten dort wirklich so lange unentdeckt geblieben sein?
Sie klaubte ein Polaroid vom Schreibtisch auf, das sie in der Surgeon's Hall gemacht hatte - ein Porträt von Lovell. Der Mann hatte auf dem Bild nichts von einem Menschen, der in Afrika durch die Hölle gegangen war. Seine Haut erschien blass und weich, das Gesicht jugendlich. Jean hatte den Namen des Künstlers auf der Rückseite vermerkt. Wieder stand sie auf, ging aus ihrem Zimmer, öffnete die Tür zum Büro des Chefkurators und machte dort das Licht an. Es gab in dem Zimmer ein ganzes Regal mit Nachschlagewerken. Sie fand sofort den richtigen Band und schlug die Seite mit dem Namen des Malers auf: »J. Scott Jauncey, 1825-1835, in Edinburgh tätig, vornehmlich als Landschaftsmaler, gelegentlich aber auch als Porträtist«, las sie. Danach hatte er viele Jahre auf dem europäischen Kontinent verbracht und sich schließlich in Hove niedergelassen. Folglich musste Lovell während seiner frühen Edinburgher Jahre für das Porträt gesessen haben, also noch bevor er selbst auf Reisen gegangen war. Jean überlegte, ob ein Porträt damals wirklich so ein Luxus gewesen war, wie sie glaubte, dass sich also nur begüterte Leute ein solches Bild hatten leisten können. Dann fiel ihr wieder Reverend Kirkpatrick ein. Möglich, dass das Porträt auf seinen Wunsch hin entstanden war, weil sich der Geistliche in seiner Gemeinde in Ayrshire unbedingt an einem Bild seines Ziehsohnes ergötzen wollte.
Vielleicht gab es im Archiv der Surgeons' Hall auch Aufzeichnungen über den Verbleib des Bildes vor dessen Übernahme in die dortige Sammlung.
»Montag«, sagte sie laut. Das hatte bis Montag Zeit. Jetzt war erst mal das Wochenende an der Reihe... und das Lou-Keed-Konzert, das es zu überstehen galt.
Als sie im Büro des Chefkurators das Licht ausmachte, hörte sie wieder ein Geräusch, diesmal viel näher. Die Tür zum Sekretariat wurde aufgestoßen, und sämtliche Lichte gingen an. Jean trat unwillkürlich einen Schritt zurück, bevo sie begriff, dass es sich bloß um die Putzfrau handelte.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie und legte sich die Hand auf die Brust.
Die Putzfrau lächelte, legte einen Müllsack auf den Boden und verschwand wieder im Gang, um ihren Staubsauger nachzuholen.
»Was dagegen, wenn ich schon mal anfange?«, fragte sie.
»Überhaupt nicht«, sagte Jean. »Ich bin sowieso fertig.«
Als sie dann ihren Schreibtisch aufräumte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihr das Herz immer noch bis zum Hals schlug und dass ihre Hände zitterten. Sie war schon oft spätabends durch das Museum gegangen, doch einen derartigen Schrecken hatte sie noch nie bekommen. Von dem Polaroid starrte ihr Kennet Lovells Porträt entgegen. Eigenartig: Aber Jauncey hatte den jungen Arzt nicht besonders vorteilhaft dargestellt. Trotz Lovells Jugend wirkten seine Augen auf dem Bild irgendwie kalt, der Mund verkniffen und das Gesicht berechnend.
»Geht es jetzt direkt nach
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