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Puppenspiele

Puppenspiele

Titel: Puppenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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gesehen. Groß, unsympathisch, mit Baseballcap und Sonnenbrille.«
    Warum er Niklas nicht mochte, würde er nicht genauer erklären können. Das konnte keiner. Wo Niklas doch so freundlich, so gut aussehend, so perfekt war. Viele glaubten, ihn zu mögen. Zumindest anfangs. Aber niemand mochte ihn wirklich. Das war schon immer so gewesen. Früher hatte Niklas sich oft nach den Gründen gefragt. Inzwischen kannte er sie. Die Menschen mochten ihn nicht, weil er anders war. So viele Jahre hatte er sich Mühe gegeben, genauso zu sein wie alle anderen. Damit er gemocht wurde. Es war ihm nie gelungen. Er konnte nicht so sein wie die anderen. Aber er hatte gelernt, sie nachzuahmen. Wenn er sich konzentrierte, ahmte er die »normalen« Menschen sogar hervorragend nach. Dann kam er sich menschlicher vor als sie selbst, was ihn amüsierte. Und sie fielen auf ihn herein. Vielleicht verspürten sie leises Unbehagen, das einem hinten im Nacken die Härchen aufstellt. Aber das nahmen sie kaum wahr. Sie sahen sein äußeres Erscheinungsbild, die perfekt manikürten Fingernägel, das makellose Lächeln und seine kostspielige Uhr. Sie sahen die Insignien des Erfolgs, bewunderten seine Image Tools und missachteten ihre Instinkte. Sie waren dumm. Aber ihre Dummheit war nur einer von den großen und kleinen Unterschieden zwischen ihnen und Niklas. Die anderen konnten nicht sauber denken. So wie er. Er besaß einen rasiermesserscharfen Verstand. Dafür konnten sie fühlen. Vermutlich beeinträchtigte sie diese Fähigkeit beim Denken. Niklas war vor dieser Gefahr gefeit. Wenn er einmal nicht vollkommen stringent dachte, dann aus kalkulierter Nachlässigkeit. Weil er wusste, dass eine kleine Abweichung von der idealen Linie ihn das Ziel dennoch nicht verfehlen ließ. Deswegen ließ er manchmal Nachlässigkeiten zu, gewissermaßen als verspielte Schnörkel der Perfektion – so wie er etwa Catrins Leiche auf einem Ikea-Stuhl aus der Mietwohnung fixierte hatte. Eine provokante Spielerei, die ihm Vergnügen bereitete. Niemals jedoch ließ er Unkontrolliertheit zu oder verfiel gar in Sentimentalität. Niklas waren Gefühle fremd. Er spürte durchaus Schmerz, wenn er den Kopf gegen eine Wand rammte oder seine Fingernägel in die Handinnenflächen grub, bis das Blut hervortrat. Er kannte das Gefühl des Bedauerns, wenn sich Ereignisse entgegen seiner Wünsche entwickelten, ebenso wie eine gewisse Zufriedenheit, wenn alles nach Plan verlief. Was Niklas allerdings nicht empfinden konnte, war pure Freude. Trauer. Angst. Hass. Und Liebe.
    Er erinnerte sich dunkel, dass er in seiner Kindheit noch fühlen konnte. Damals hatte er Wut empfunden, brennend bis zur Weißglut. Damals hatte er Hass empfunden, glühend bis zur Mordlust. Er erinnerte sich sogar an einen Tag, an dem er Freude und Hoffnung empfunden hatte: Es war sein siebter Geburtstag gewesen, und er bekam ein stahlblaues Fahrrad geschenkt. Da hatte er gedacht, dass er nun dazugehören würde, zu der Bikergang von Lenny aus der Nebenstraße. Doch Lenny und seine Freunde sahen das anders. Sie wollten ihn nicht, den Schlaumeier, der schon erheblich besser lesen, schreiben und rechnen konnte als die Viertklässler. Sie schickten ihn weg. Weil er anders war. Damals hatte Niklas die grundlegende Notwendigkeit der Anpassung begriffen und damit begonnen, die nachzuahmen, deren Wohlwollen er aus dem einen oder anderen Grund suchte. Er senkte seine Leistungen in der Schule und modifizierte sich zu einem gewalttätigen Bengel. Der schließlich ein Jahr später die Führungsposition der Bikergang übernahm. Lenny war erledigt, und was noch von seinem Charisma als Exgangleader übrig blieb, wurde von Niklas durch gnadenlosen Psychoterror in Einzelteile zerlegt. Bis Lenny ein ängstlicher Bettpisser war, der von allen geschnitten wurde. Da fiel Niklas zum ersten Mal auf, dass er sich nicht mehr freuen konnte. Dass er nur noch kalte und stumpfe Befriedigung empfand.
    Er sehnte sich danach, die intensiven Gefühle seiner frühen Kindheit wieder einmal spüren zu können. Er hatte es versucht, hatte sich auf Liebe und Hass konzentriert, denn das schienen ihm die Hauptdisziplinen emotionaler Intensität zu sein. Doch bislang war er gescheitert. Er wusste, wieso. Seine kurze Liaison mit Sarah war der falsche Weg gewesen. So dumm die anderen auch waren, sosehr sie sich anfangs von seinem gewinnenden Wesen und seinem guten Aussehen blenden ließen … Irgendwann sahen sie ihn nicht mehr mit diesem Kollektivblick,

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