Purgatorio
eine unförmige Zementbrücke. Mit laufendem Motor warteten sie, bis es ganz Tag wäre, bevor sie die ersten Entwürfe für die Karte zeichneten. Hast du den Maßstab schon festgelegt?, fragte Emilia. Siehst du den Wall dort, neben der Brücke? Wir müssen das Symbol wählen. Schlaf nicht ein, Simón.
Um nicht zusammenzubrechen, steckte er sich eine Zigarette an. Sogleich drückte er sie wieder aus, als wäre sie vergiftet. Die riecht aber übel, sagte er. Das stimmte. Der Gestank lag breit über allem wie ein Laken. Vielleicht die Vegetation, sagte Emilia. Manchmal sind die Bäume voller Pilze und Vogelschisse. Es ist Winter, stellte ihr Mann fest. Die Pflanzen sind kahl und atmen nicht einmal. Dann muss es die Fäulnis des Flusses sein, sagte sie.
Sie erinnerte sich, dass die Ratten, wenn sie auf Nahrungssuche gehen, ihre Jungen unter den Brücken zurücklassen. Wer konnte wissen, wie viele hungrige Tiere sich dann gegenseitig auffraßen. Aber der Geruch veränderte sich, manchmal hatte er gar nichts Blutiges und gemahnte an einen zahnlosen Mund, der den Schaum seines Atems freigab.
Man denkt, Gerüche breiten sich schneller mit der Hitze aus, doch der jenes frühen Morgens schöpfte seine Kraft aus der kalten Luft – es war ein Brodem von Gestank, der immer körperlicher wurde, statt sich zu verziehen. Auf die Scheiben des Jeeps fielen einige Eiskristalle, und Emilias Gelenke begannen zu schmerzen. Die Luft gefror, und sie hätte sich gewünscht, auch der Gestank möge in Glimmerplättchen zerbrechen. Die Einöde war so gewaltig, so absolut, dass im trüben Licht des Morgengrauens die Dinge verschwanden, sich verflüchtigten und nur die Verlassenheit blieb: endlose Plazentas von Verlassenheit, Blasen, deren Höhlungen sich vor dem Jeep auftaten. Wir werden nirgendwo hinkommen, sagte Emilia. Simón antwortete: und zwar, weil wir schon nirgendwo sind.
Als sich die Helligkeit Bahn brach, erkannte sie einige Schatten, die auf den Jeep zukamen. Beim Herankriechen wühlten sie den Split des Weges auf. Horrorfilme oder phantastische Erzählungen, in denen übernatürliche Wesen erschienen, interessierten Emilia nicht. Doch die dieses Morgens rochen nach Schwefel und surrten wild durcheinander. Es war ein Geräusch aus Urzeiten, das Geräusch der Wüste, die ihr Gift laichte.
Rühr dich nicht. Da sind Leute, flüsterte Simón, während er die Türen verriegelte. Fast im selben Moment begann draußen jemand wie rasend an der Klinke zu rütteln.
Es wollte einfach nicht richtig Tag werden. Lange war das Licht nur eine violette Helligkeit in der Ferne. Der Wind schlingerte, und der Sand prasselte an die Karosserie des Jeeps. Ein neues, schrilleres Geräusch durchschnitt die Luft. Das Jammern, Weinen oder was auch immer zerteilte sich in drei oder vier Stimmenflüsse, die überallhin gingen, rau, durchdringend, und wenn sie plötzlich innehielten, dann nur, um alle Flüsse in eine einzige Nadel zu zwingen, die das Trommelfell durchbohrte.
Da wälzen sich Leute, sagte Simón.
Er zog das Fleischmesser hervor, das er immer bei sich hatte, und stieg aus. Da das Zwielicht des Tagesanbruchs noch undurchdringlicher war als die Nacht, schaltete Emilia die Scheinwerfer ein. Eine Frau in Lumpen schlug sich am Wegrand die Arme an den Leib, um sich zu wärmen. Neben ihr wiegten zwei Rheumatikerinnen ein in Zeitungspapier gehülltes Bündel. Dahinter versuchte eine Frau mit Löwenmähne einen Mann wiederzubeleben, der mit herzzerreißendem Kreischen dalag. Auf dem Split näherte sich ein anderer in einem in Streifen geschnittenen Regenmantel, der zu nichts dienen konnte – der Körper darunter war nackt. Hinter ihm hoppelte einer daher, der sich mit den Händen auf Holzstümpfen vom Boden abstieß. Weitere Menschen urinierten und defäzierten unter der Flussbrücke. Es gab weder Feuer noch sonst etwas, was sie hätte wärmen können. Nur die Furie dieses Gestanks tiefer als die Nacht.
Als die Unbekannten Simón auf sich zukommen sahen, schrien sie ihm sinnlose Jammerworte entgegen. Die Haut des Mannes mit dem Regenmantel war von einer dicken schwarzen Schmutzschicht bedeckt. Von weitem sah er überhaupt nicht wie ein Mensch aus. Emilia konnte sehen, dass alle krank vor Entsetzen waren, genau wie sie. Dass das Entsetzen sie gleichmachte, bewog sie, sich in eine der Decken zu hüllen und auszusteigen. Als sie schon dicht bei den alten Frauen war, vernahm sie ein schwächliches Wimmern und sah, dass sich im Zeitungspapierbündel
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