Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
Vom Netzwerk:
ein Baby befand. Ohne zu zögern reichte sie ihnen ihre Decke. Auf den knapp hundert Meter Weg vom Jeep zu den Alten wurde es hell. Die Sonne galoppierte förmlich an den Himmel hinauf, als wollte sie die Verspätung wettmachen. Der Wind pfiff eisig und kräuselte den Sand.
    In der Ferne riefen die Unbekannten weiter sinnlose Sätze, immer wieder dieselben Wörter, die sich nur in Klang und Lautstärke veränderten.
Der mit dem Rosthaar hat sich die Hose vollgekackt.
Oder:
Gib mir Kies fürn Sprit, he, siehste nicht, dass ich verreck vor Durst?
Und im Chor:
Wir alle hier sind Scheißneger, darum hat man uns in Netzen hergeschleppt, wie Hunde. Scheißneger, Scheißneger.
Noch rätselhafter waren die Gesten der Männer, die einander mit bleckenden Zähnen bedrohten und schluchzten, als wäre ihnen eine üble Erinnerung in die Nase gestiegen. Sie schnäuzten sich mit einem Finger und schauten bedächtig, ob der Rotz auf ihren Lumpen oder den Kieseln gelandet war. Nachdem sie ein wenig Vertrauen gefasst hatten, erzählte die Frau mit der Löwenmähne, deren Sprache etwas artikulierter war, kurz vor Mitternacht habe eine Armeepatrouille in den Vorhallen und Höfen der Kirchen, wo sie geschlafen hatten, eine Hetzjagd mit ihnen veranstaltet.
    Sie waren achtzehn oder zwanzig und lebten von der Fürsorge. Einige gaben sich als Verrückte aus und unterhielten die Leute mit ihrem Spiel auf Gitarren, die nur aus einem Besenstiel bestanden, oder indem sie Gedichte auf Zeitungspapier schrieben. Andere jedoch waren wirklich verrückt. Der mit dem Fetzenmantel glaubte vom Jüngsten Gericht in gottlose Zeiten zurückgekehrt zu sein, denn Gott war nicht mehr nötig. Er war von Engeln umgeben, die ihn mit den Seelen der Verstorbenen in Verbindung brachten, und langweilte sich nie, da er ununterbrochen mit ihnen über Familiengeheimnisse und unbekannte Krankheiten sprach.
    Man hatte sie in Hundefängerlastwagen aus der Stadt Tucumán gekarrt und im Ödland von Catamarca ausgesetzt, unter der Brücke des El Abra, zwischen Bergen von Krankenhausabfällen, Resten blutiger Verbände, Watte voller Eiter, Blasen, Därmen, Magenteilen, verkrebsten Eingeweiden, Nieren mit Tumoren und anderen Affronts der Krankheit gegenüber dem menschlichen Körper. Selbst im Eis der Nacht legten Wolken von Schmeißfliegen ihre Eier auf den Müll, und die Geierfalken rissen sich in Schwärmen um das weggeworfene Gekröse. Das Fieber dieses Gestanks verschlang den ganzen Sauerstoff und erfüllte die Körper der Bettler so nachhaltig, dass er für immer an ihnen haften musste.
    Simón erbot sich, die Ausgesetzten grüppchenweise zum Militärposten von Huacra zu bringen. Es war ihm egal, die Arbeit an der Karte auf den Nachmittag zu verschieben und am Vormittag so viele Fahrten wie nötig zu machen, aber er erfuhr, dass zwei der Männer schon in der Nacht den ganzen Weg gegangen waren, und als sie mit zerschundenen Füßen am Ziel angekommen waren, hatte sie ein Armeelastwagen wieder in die Wüste zurückgebracht. Er dachte, also suche er wohl besser in einem Gehöft namens Bañado de Ovanta Hilfe, zwanzig Kilometer östlich. Ich fahre mit, sagte Emilia. Man muss Brot, Kaffee und Decken für diese Leute holen, bevor sie uns wegsterben.
    Der Weg zurück schien ein anderer zu sein. Die mörderische Sonne ließ alles gleich aussehen, und sie konnten kaum die Flecken des Weißdorns und der Kakteen erkennen. Irgendwo mussten die Wegweiser vertauscht worden sein – statt weiter auf Bañado de Ovanta zuzufahren, führte sie der Weg zurück nach Huacra. Später sollte sich Emilia mehr als einmal fragen, ob sie sich wohl zufällig verfahren hatten oder jemand absichtlich die Wegweiser geändert hatte. Als sie schon zwanzig Minuten unterwegs waren, erblickten sie in einer Mulde rechts von der Straße dieselben zwei toten Hunde, die sie beim Verlassen aus Huacra linker Hand gesehen hatten. Sie wussten beide, dass Bilder, die sich umgekehrt wiederholen, Unglück verheißen.
    Es ereignete sich fast im selben Augenblick. Rund hundert Soldaten in Arbeitsuniform umstellten sie und zwangen sie mit angelegtem Gewehr auszusteigen. Unter dem Druck der bier- und nudelgefüllten Bäuche sprangen ihre Jackenknöpfe auf. Der Posten, der vorher durch seine Verlassenheit aufgefallen war, bestand nun aus einem Schwarm Soldaten, die in einem Blechschuppen im hinteren Teil eines weiteren Hofes ein- und ausgingen. Die Wänste schoben sie zu einer Baracke, die als Wachraum diente. Sie trugen

Weitere Kostenlose Bücher