Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
Schlussfolgerungen des Hakim kamen ihr im einen Moment logisch und richtig vor, im nächsten völlig unglaubwürdig. Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass die Schrecken, die Lucia und ihr in den vergangenen Monaten widerfahren waren, geplant gewesen sein sollten. Außerdem waren ihr länder- und sogar meeresüberschreitende Verbindungen und Kontrakte zwar nichts Neues, ein Plan jedoch, wie ihn der Hakim vermutete … Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt der Frage: Falls sich Sîdi Alîs Verdacht bestätigte, falls also der Advocat mächtige Verbündete wie den Pascha bemühte, um sie zu töten, wohin konnten sie dann überhaupt flüchten?
Als am frühen Morgen Chekaouis Silhouette am Horizont verschwand, vernahm sie das Ziel ihrer Flucht. Der Hakim wollte nach Mogador, einer Stadt am großen westlichen Ozean. Bis dorthin reiche der Arm des Paschas nicht, da dieses Gebiet der portugiesischen Krone unterstehe, erklärte Alî el-Mansour. Er für seinen Teil freue sich darauf, dort die Methoden der gnaoua, der heilkundigen Musiker des Sîdi Bi l ˉ al zu studieren. Für Mirijam war ein Ziel so gut wie jedes andere.
Rundherum dehnte sich eine trostlos öde Wüste grenzenlos aus. Mirijam schluckte. Würde der Sherif den Weg ohne Hilfe überhaupt finden? Wie sollte man sich in diesem Einerlei orientieren, wenn das Auge nirgendwo Halt fand? Sie hatte erwartet, durch ein Meer aus Sanddünen mit Inseln aus herrlich grünen Oasen zu reiten, ähnlich wie in der Gegend um Tadakilt, hierherum gab es jedoch nichts als Geröll. Von einer vor Hitze wabernden Kiesebene, die von Horizont zu Horizont reichte und in der alle Konturen ausgelöscht waren, hatte niemand etwas gesagt. Erst nach Stunden änderte sich allmählich das Bild, als sie auf Sandwehen trafen, die sich hinter Steinbrocken oder vereinzelten mageren Büschen als helle Häufchen gebildet hatten. Schon bald wurden daraus immer höhere Hügel, die sogar zu unüberwindlichen Dünenbergen aus mehlfeinem Sand heranwuchsen.
Sie ritten mit ihren drei Lastkamelen am Fuße dieser Dünen, dort, wo der unablässig wehende Wind den Sand davongeblasen hatte. Der harte Boden erweckte beinahe den Anschein von gepflasterten Straßen, und das Vorwärtskommen war ein Kinderspiel. Glücklicherweise führten diese » Straßen« in die gewünschte westliche Richtung. Der Sherif führte den kleinen Trupp an. Sie ritten hintereinander in einer Reihe, wie es seit altersher Karawanenbrauch war. Sein schmaler Rücken wirkte kraftlos, wie er im Takt der langen Schritte des Kamels durch die fahle Landschaft schwankte, und doch wusste er, was zu tun war. Hin und wieder wandte er sich um und nickte Mirijam, die die Reihe schloss, aufmunternd zu. Sie hatte alle Hände voll mit ihrem Kamel zu tun, das eine harte Hand brauchte, wie sie feststellte. Es klagte, grummelte und bockte, und wenn sie nicht aufpasste, versuchte es sogar, seine Reiterin zu beißen.
Sie gaben sicher ein merkwürdiges Bild ab, dachte der Sherif, zwei Menschen und fünf Kamele, davon drei schwer beladen mit Kisten und Bündeln. Hatte er zu viele von seinen Büchern und Schriften mitgenommen? Dabei hatte er den allergrößten Teil seiner Bibliothek zurückgelassen und nur die kostbarsten und wichtigsten Stücke eingepackt. Die Kamele schienen jedoch zu schwer bepackt zu sein, oder warum trotteten sie mit derart schleppenden Schritten? Ihm ging es jedenfalls nicht schnell genug. Mirijam und er waren ungeübte Reiter, lahme Stümper, gemessen an den trainierten Soldaten des Paschas auf ihren meharis, den schnellen Rennkamelen. Er wusste, wenn die Soldaten nur gründlich genug suchten, konnten sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auf ihre Spur stoßen. Zudem war ihr Vorsprung ziemlich knapp. Sie mussten unbedingt so rasch wie möglich Ksar El-Mania erreichen, dort endete das Herrschaftsgebiet des Sultans von Konstantinopel und damit auch das seines Vasallen, des Paschas von Al-Djesaïr. Bis dahin würden sie sich untertags keine Pausen leisten, außer den allernotwendigsten, die die Tiere benötigten.
Kurz vor Einbruch der Nacht, als der Wind zur Ruhe kam und die Luft besonders klar wurde, machten sie Rast. Während Mirijam die Kamele fütterte, suchte sich der Sherif eine möglichst hohe Erhebung, stieg hinauf und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. War irgendwo eine Sandfahne zu entdecken? Stieg Rauch auf? War man ihnen bereits auf den Fersen? Doch wie sehr er sich auch anstrengte und wie
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