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Purpurschatten

Purpurschatten

Titel: Purpurschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Vorfrühlingsluft durch die geöffneten Terrassentüren strich, bekam Juliette kaum Luft. Sie ging ins Badezimmer im ersten Stock, hielt ihr Gesicht unter das fließende Wasser und spritzte sich das kühle Naß mit der flachen Hand an Stirn und Schläfen. Verzweifelt, ratlos betrachtete sie sich im Spiegel und griff, tief in Gedanken, zu einem Lippenstift, hielt ihn fest zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte ihn gegen den Spiegel und schrieb auf die Glasfläche:
    Warum?
    Warum hatte Collin das getan?
    Hatte er einfach nicht mehr weiterleben wollen? Hatte er das Mitleid der anderen Menschen nicht mehr ertragen? Oder hatte er ihr, Juliette, mit seiner letzten Tat noch eins auswischen, ihr ein Schuldgefühl einpflanzen wollen?
    Oder steigerte sie sich nur in irgend etwas hinein?
    Das Telefon klingelte. Es war Brodka.
    Juliettes Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Stimme klang stumpf und belegt. Das Wühlen in ihrer Vergangenheit forderte ihr mehr an Kraft und Nerven ab als die Beerdigung selbst. Mechanisch beantwortete sie Brodkas Fragen, und mit Gleichmut vernahm sie seine tröstenden Worte.
    »Laß uns morgen weiterreden«, bat sie schließlich. »Es war sehr anstrengend für mich.«
    Bis zum Abend hatte Juliette im Haus drei große Haufen aufgetürmt. Im Obergeschoß Kleidung, im Wohnzimmer Nippes und Trödel, im Arbeitszimmer Berge von Papier.
    Gegen 19 Uhr verließ sie das Haus und begab sich mit einer Reisetasche zum Hilton-Hotel, wo sie sich ein Zimmer nahm. Dort hoffte sie den unsichtbaren Armen Collins zu entgehen, wenigstens für eine Nacht.
    Aber sie konnte nicht schlafen. Kurz nach zehn stand sie auf, kleidete sich an und ging in die Hotelhalle, wo um diese Zeit Hochbetrieb herrschte. An der Bar setzte sie sich an die linke Außenseite und bestellte ein Glas Rotwein. Abwesend betrachtete sie das Kommen und Gehen der Hotelgäste.
    Plötzlich stand ein Mann vor ihr, den sie bereits aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte; durchschnittliches Aussehen, etwa dreißig Jahre alt, dunkle, nach vorn gekämmte Haare: Norbert.
    Juliette drehte sich demonstrativ zur Seite, ohne seinen Gruß zu erwidern.
    »Nanu?« sagte Norbert. »Hab' ich dir was getan?«
    »Da fragst du noch? Du weißt doch genau, was los ist …« Juliette nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. »Verschwinde!«
    Norbert gab nicht auf. Er ging um Juliette herum, baute sich vor ihr auf und fragte mit herrischer Stimme, die sie an ihm gar nicht kannte: »Zum Teufel, was ist mir dir? Was hast du plötzlich gegen mich?«
    »Das will ich dir sagen!« erwiderte Juliette verbittert. »Vermutlich hast du mich seit Jahren bespitzelt und Informationen an deine miesen Auftraggeber geliefert. Und ich dumme Kuh habe nichts bemerkt und dir vertraut.«
    Norbert schien verwirrt, machte ruckartige Bewegungen mit dem Kopf, wie es seine Art war, wenn er nicht weiterwußte. Schließlich bestellte er beim Barkeeper einen Gin Tonic, kletterte auf den Barhocker neben Juliette, lehnte sich auf seinen linken Unterarm und sagte: »Willst du mir nicht erklären, worum es hier überhaupt geht?«
    In ihrer Wut kniff Juliette die Augen zusammen und zischte ihn an: »Du bist ein lausiger Schauspieler, Norbert. Es ist zwecklos, sich zu verstellen. Ich habe in deiner Wohnung die Purpurschlinge gesehen. Das sagt wohl alles.«
    »Aha«, erwiderte Norbert, der offenbar nicht ganz folgen konnte. »Du hast bei mir was gesehen … eine Purpurschlinge …« Er hielt inne. »Ach so, ja, jetzt weiß ich, was du meinst. Und wegen dieses Dings bist du sauer auf mich?«
    Juliette machte eine abfällige Handbewegung. »Vergiß es. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!«
    Sie wandte sich um, trank ihr Glas leer, legte einen Schein auf die Theke und wollte gerade gehen, als Norbert plötzlich mit weinerlicher Stimme sagte:
    »Hör mich an. Danach kannst du über mich denken, was du willst. Aber bitte hör mich an: Diese rote Schleife, die du bei mir gesehen hast, gehörte nicht mir, sondern einem älteren Freund, den ich vor kurzem in einem Lokal am Gärtnerplatz kennengelernt habe. Er hat mir seinen Namen verschwiegen, obwohl er noch am selben Abend mit mir nach Hause ging. Wir … wir fanden Gefallen aneinander, und als ich ihn am nächsten Morgen nach seinem Namen gefragt habe, sagte er: ›Nenn mich einfach Titus. Alle, die mich kennen, nennen mich so, obwohl ich nicht so heiße.‹ Und dann …«
    »Sagtest du ›Titus‹?« Juliette wurde hellhörig. »Von mittlerer Statur?

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