Pusteblume
ihn. »Das ist nur deine Reaktion auf ein schreckliches Trauma.«
Ganz anders als am Vortag lag Fintan apathisch in den Kissen. Plötzlich sehnten sich alle nach seinen bissigen Kommentaren. Er bewegte sich nur einmal, und zwar als eine Krankenschwester ins Zimmer kam, und sofort rollte er sich den Ärmel auf. Er war in die merkwürdige Welt der Kranken eingetreten, dachte Tara und fühlte sich ausgeschlossen, als sie das Trennende zwischen ihm und sich sah. Und sie waren sich immer so nahe gewesen! Nie würde sie an dem teilhaben, was er durchmachte, noch könnte sie das, was sich zwischen ihm und der Krankenschwester abspielte, miterleben. Er gehörte jetzt zu anderen Menschen.
Um halb zwei, als Katherine an ihrem Schreibtisch saß und sich nicht in der Lage sah zu entscheiden, ob sie ein Sandwich mit Käse oder eins mit Hühnchen haben wollte, klingelte das Telefon. Käse! Sie würde Käse nehmen. Kein Zweifel, Käse war die richtige Wahl. Es sei denn … sie nähme doch Hühnchen.
Der Portier war am Apparat und teilte ihr mit, daß am Empfang ein »Herr« war, der sie zu sprechen wünschte. Aus dem ironischen Ton, mit dem er »Herr« sagte, entnahm sie, daß ihr Besucher alles andere als ein Herr war. Sie fuhr mit dem Aufzug nach unten, wo ein grinsender Milo stand, mit einem
A-Z
von London in seiner Hosentasche.
»Wie hast du hergefunden?« fragte sie ihn erstaunt. »Mit der Piccadilly Line zum Piccadilly Circus«, sagte er, und die Worte nahmen einen fremdartigen Klang an, als er sie mit seinem weichen irischen Akzent aussprach. »Dann mit der Bakerloo Line bis Oxford Circus. Fintan schläft, JaneAnn muß beten, Timothy liest die Zeitung, da dachte ich mir, ich gönne mir ein Abenteuer.«
»Kennen Sie den Mann?« fragte der Portier und streifte Milos wildes Haar, seine abgetragenen Arbeitshosen und seine derben Stiefel mit einem verächtlichen Blick.
»Ja, Desmond, vielen Dank.«
Desmond schüttelte verständnislos den Kopf, als wollte er sagen: Es sind immer die Stillen. Katherine wandte sich wieder an Milo. »Und du hast dich nicht verfahren? Sag es mir ehrlich!«
»Doch, ich habe mich verfahren. In South Kensington bin ich in die falsche Richtung eingestiegen, aber dann bin ich in Earl’s Court raus und habe eine Frau nach dem Weg gefragt.«
»Hat sie dir Auskunft gegeben?« Katherine seufzte erleichtert.
»Nein, das nicht. Sie hat gesagt – mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege. Sie hat gesagt: ›Seh ich etwa aus wie ein sprechender Stadtplan?‹«
»Armer Milo.« Katherine legte beschützerisch die Hand auf seinen Arm und merkte kaum, daß Joe Roth und Bruce durch die Halle gingen. »Es tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun!« erklärte Milo. »Ich fand es sehr komisch. Langsam gewöhne ich mich an diese Stadt hier – die Leute sagen, was sie denken. Das finde ich erfrischend. ›Seh ich etwa aus wie ein sprechender Stadtplan?‹« wiederholte er und lachte in sich hinein. »Ein sprechender Stadtplan. Wie findest du das? So was habe ich noch nie gehört. Aber jetzt will ich mich auf den Weg nach Hammersmith machen, um Tara zu besuchen. Piccadilly oder District Line. Und ehm … ich würde auch Liv besuchen, wenn ich wüßte, wo sie arbeitet.«
Katherine sah ihn belustigt an. »Sie ist heute in Hampshire.«
»An welcher Linie liegt das?«
JaneAnn betete unablässig. Immer hatte sie einen Rosenkranz in der Hand, und fast täglich ging sie in die Krankenhauskapelle, oft begleitet von Sandro. In seinem Bemühen, sich bei ihr beliebt zu machen, hatte er ihr viele komplizierte Lügen erzählt, von seinen religiösen Erfahrungen und seinen Reisen zu katholischen Wallfahrtsorten. Doch als er Andeutungen machte, daß er Visionen hatte, erkannte er schnell, daß er sich übernommen hatte.
»Mein Kind!« hatte JaneAnn aufgeregt gesagt und ihn bei dem Revers seines Jacketts gepackt. »Das müssen Sie Ihrem Priester sagen! Es ist Ihre Pflicht. Das dürfen Sie nicht für sich behalten.«
Sandro hatte hastig einen Rückzieher gemacht und JaneAnn davon überzeugen können, daß seine Visionen wahrscheinlich durch eine Übermenge von alkoholischen Getränken hervorgerufen worden waren. Daraufhin war sie so enttäuscht, daß er sie häufiger zur Krankenhauskapelle begleitete.
»Wenn man sieht, wieviel ihr beide für Fintan betet«, sagte Katherine, »glaube ich, daß wir eine gute Chance haben.«
»Ich glaube das nicht«, winkte JaneAnn ab. »Ich glaube nicht, daß unsere Gebete die
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