Pusteblume
Dritte-WeltKüche. Wenn wir nicht aufpassen, fängt die Weltgesundheitsbehörde an, Milchpulver und Mehl aus der Luft abzuwerfen. Wir könnten eine Spendenaktion ins Leben rufen und zu reichen Leuten werden.«
Thomas sah ihr sprachlos zu. So hatte er sie noch nie erlebt. Hinter einer anderen Tür entdeckte sie Stapel von Thomas’ Dosen mit Nieren-Fleischpastete.
»Meinetwegen kannst du eine davon haben«, bot er ihr an und wunderte sich über das Zittern in seiner Stimme.
»Lieber würde ich meine eigene Niere essen«, gab sie zurück. »Wie spät ist es? Safeway hat noch offen, ich gehe jetzt einkaufen.«
»Warte eine Sekunde, ich komme mit.«
»Oh, nein, du kommst nicht mit«, sagte sie und nahm ihre Autoschlüssel.
»Kauf reichlich Gemüse«, rief er ihr nach.
Tara drehte sich auf dem Absatz um und kam mit dem Gesicht ganz nah an seins. »Warum hältst du nicht deinen Mund?« sagte sie und ging, während er ihr verdutzt nachsah. Sie stieg ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Der Wurm hatte die Richtung gewechselt. Der Wurm hatte mit dem Wirbeltanz angefangen.
Es gab ein paar eiserne Regeln, nach denen Tara lebte. »Behandle die Menschen so, wie du behandelt werden möchtest«, war eine; eine andere lautete: »Geh nicht in einen Supermarkt, wenn du Hunger hast.«
Aber sie war in der Stimmung, die Regeln zu durchbrechen. Wagen oder Korb? Korb oder Wagen? Was hatte sie vor?
Wagen, beschloß sie.
Sie rauschte durch die Obst-und-Gemüse-Abteilung und warf verächtliche Blicke nach rechts und links. Frische Sachen würden heute nicht mit ihr nach Hause kommen. Dann fiel ihr Blick auf die Mohrrüben. Mohrrüben sind meine Freunde, wußte sie. Wie oft hatten rohe Mohrrüben das Hungergespenst in sicherer Entfernung gehalten. Aber heute nicht. Es sei denn, sie hatten einen Schokoladenüberzug.
»Mohrrüben können sich verpissen«, brummte sie.
Ein junger Mann, der gerade vor zwei Tagen mit dem Bus aus Cardiff angekommen war, hörte sie. Seine Mutter hatte recht: London war voll mit Verrückten. Klasse!
Tara bemerkte seinen Blick, und da fiel ihr ein, daß manche Supermärkte in London einen Single-Abend anboten. War heute etwa ein solcher Abend? Sie sah zu dem jungen Mann hinüber und merkte, daß er sie immer noch anstarrte. Sie war überrascht, nicht unangenehm. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm zulächeln sollte, ließ es dann aber.
Wer braucht einen Mann, wenn er etwas zu essen haben kann?
Und zu essen würde sie bekommen.
Normalerweise brauchte Tara sehr lange für ihre Einkäufe. Es war, als kämpfte sie sich durch ein Minenfeld. Versuchung auf allen Seiten. Jede Entscheidung mußte lange erwogen und schmerzlich gefällt werden. Die Rückseite jeder Packung mußte auf die Angaben von Kalorien und Fettgehalt überprüft werden. Nichts, was mehr als fünf Prozent Fett enthielt, durfte in den Wagen. »Nichts wird durchgelassen!« war ihr Motto.
Es sei denn, Thomas war gerade abgelenkt.
Manchmal ließ sie ihren Finger sehnsüchtig über die verbotenen indischen Gerichte und die Tiefkühlpizza gleiten und wünschte sich, die Dinge stünden anders. Aber schon lange hatte sie aufgehört, an den Süßwarengondeln vorbeizugehen, weil das Gefühl des Verlusts zu groß war. Am besten, sie schloß mit diesem Teil ihres Lebens einfach ab. Es war eine leidenschaftliche Liebesaffäre gewesen, zu leidenschaftlich, und sie wußte, daß sie nie einfach nur Freunde sein konnten. Doch manchmal wollte sie einfach in Erinnerung schwelgen.
Der Erinnerungen gab es viele … Ein Bild von ihr, in Rosa mit unscharfen Rändern, auf dem sie lachend und mit wehendem Haar gezeigt ist, eine Packung gefüllter Schokoladenkekse im Arm. Oder ein anderes, auf dem sie an einem sonnigen Sommertag einen Hügel hinunterrennt, in beiden Händen eine Tüte Fruchtdrops. Oder eins, auf dem sie sich glücklich kichernd eine Tafel Nußschokolade an die Wange drückt. Ahh, das waren noch Zeiten…
Aber dieser Abend war anders. Wie ein Bulldozer raste Tara durch die Gänge, die Bremswirkung ihrer üblichen Bedenken völlig außer Kraft gesetzt. Alles war freigegeben. Mit einer ausholenden Geste beförderte sie den größten Teil der Chipstüten aus dem Regal in ihren Wagen. Ohne die geringsten Gewissensbisse warf sie ein paar üppig belegte Sandwiches für die Fahrt nach Hause oben drauf.
Aber es fiel ihr schwer, nicht schon einmal einen Bissen von den Dingen zu nehmen, die sie in ihren Wagen gehäuft hatte. Schließlich
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