Pyramiden
doppelte oder gar dreifache Minuspunkte einbrachte. Wartete Mericet bereits im Turm? Nein, unmöglich. Ich nehme die direkte Route. Der Prüfer muß also irgendwo hinter mir sein. Und der Steg? Mericet kann ihn nicht vor mir erreicht haben. Das ist völlig ausgeschlossen. Er hat ihn entfernt, bevor wir uns begegneten, und er begab sich aufs Dach, während ich die Mauer erkletterte, das Fenster öffnete und … Teppic drehte diese Überlegungen mehrmals hin und her, betrachtete sie von allen Seiten, aber es gelang ihm nicht, sich von ihnen überzeugen zu lassen.
Er eilte am Dachrand entlang, hielt nach lockeren Schindeln und dünnen Drähten Ausschau. Seine Phantasie stattete jeden Schatten mit lauernden Gestalten aus.
Vor ihm ragte der Gongturm in die Höhe. Teppic blieb stehen und betrachtete ihn. Er hatte ihn schon viele Male gesehen und ihn auch erklettert, obwohl der Schwierigkeitsgrad nur 1,8 betrug – abgesehen von der Messingkuppel ganz oben; sie erforderte den Einsatz zuverlässiger Saugnäpfe. Ein vertrautes Wahrzeichen, weiter nichts. Und gerade das gab ihm nun zu denken. Der Turm zeichnete sich vor dem grauen Himmel ab, stellte eine massive Herausforderung dar.
Teppic schlich langsam über das schiefe Dach und näherte sich dem Turm von der Seite. Plötzlich fiel ihm ein, daß die Kuppel seine Initialen trug, auch die Schelters und vieler anderen Schüler. Sie bleiben auch dann dort oben, wenn ich heute nacht sterbe. Ein Gedanke, der Trost spendete. Wenn auch nicht sehr viel.
Er entrollte das Seil, holte damit aus und warf es. Das Ankereisen verhakte sich an der Brüstung direkt unter der Kuppel. Teppic zog an dem Seidenstrick, hörte ein leises Klicken auf der anderen Seite und nickte.
Dann atmete er tief durch, stützte sich an einem Schornstein ab und zerrte mit aller Kraft.
Ein Teil der Brüstung löste sich völlig lautlos, kippte und fiel.
Es krachte, als schwerer Stein auf ein Dach weiter unten prallte und über Schindeln rutschte. Kurz darauf erklang ein neuerliches Donnern, diesmal von der Straße her. Ein Hund bellte.
Die Stille kehrte zurück. Dort, wo Teppic eben noch gestanden hatte, bewegte eine leichte Brise die kochende Luft.
Nach einigen Minuten trat der Schüler hinter einem anderen Schornstein hervor, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln.
Eine der Pflichten des Prüfers bestand darin, fair zu sein. Die Klienten eines Assassinen waren notwendigerweise reich genug, um außerordentlich raffinierten Schutz zu bezahlen. Ein Gildenmitglied mit genügend Ersparnissen konnte es sich sogar leisten, anderen Assassinen Aufträge zu erteilen. 5 Mericet hatte eine lange und sehr erfolgreiche Karriere hinter sich, dabei sicher eine Menge Geld verdient. Wenn man die Sache aus dieser Perspektive betrachtete, ergaben der verschwundene Steg und die präparierte Brüstung durchaus einen Sinn. Das Gebot der Fairneß hinderte den Prüfer natürlich daran, direkt etwas zu unternehmen, aber wenn sich der Schüler von ganz allein umbrachte …
Teppic schob sich näher an den hohen Turm heran und fand dort ein Abflußrohr. Es überraschte ihn nicht sonderlich festzustellen, daß jemand Allesrutsch auf das Metall geschmiert hatte, und kurz darauf bestätigte sich ein zweiter Verdacht: Seine vorsichtig tastenden Finger berührten vergiftete Nadeln, mit schwarzer Farbe getarnt und im Innern des Rohrs festgeklebt. Mit einer kleinen Zange entfernte er eine und roch daran.
Destillierte Bläher-Flüssigkeit. Ziemlich teuer – und sehr wirkungsvoll. Teppic zog eine gläserne Phiole aus der Gürteltasche und sammelte so viele Nadeln wie möglich ein. Dann streifte er die gepanzerten Handschuhe über und begann die Kletterpartie mit der Geschwindigkeit eines trägen Faultiers.
»Nun, wenn ihr durch die Stadt unterwegs seid und eurer Arbeit nachgeht, könnte es durchaus passieren, daß es zu Meinungsverschiedenheiten mit anderen Angehörigen der Gilde kommt. Selbst Konfrontationen zwischen den hier Anwesenden wären denkbar. So etwas läßt sich nicht immer was machst du da Schelter nein sei still ich will es gar nicht wissen komm nach dem Unterricht zu mir vermeiden. Jeder Assassine hat das Recht, sich nach bestem Wissen zu verteidigen. Aber es gibt einige Feinde, die euch ständig folgen und auf die ihr nur schlecht vorbereitet seid wie heißen Sie, Käseweiß?«
Mericet wandte sich ruckartig von der Tafel ab, wirbelte so plötzlich herum wie ein Geier, der gerade ein
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