Qiu Xiaolong
Aus einem offenen Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite wehten Geigenklänge herüber. Zwei Zeilen aus Li Shangyins »Zither« fielen ihm ein.
Die Hälfte der Zithersaiten sind gerissen, ohne ersichtlichen Grund
Eine Saite, ein Wirbel, Erinnerungen an die Jugend werden wach.
Li Shangyin war ein schwieriger Dichter aus der Tang-Zeit, er war berühmt für seine schwer faßbaren Zweizeiler. In diesem Gedicht ging es sicher nicht um das alte Musikinstrument. Warum waren ihm plötzlich diese Zeilen eingefallen?
War der Mordfall der Grund?
Eine junge Frau. Ein blühendes Leben vernichtet. All die zerrissenen Saiten. Die verlorengegangenen Klänge. Nur ein halbes Leben gelebt.
Oder war es etwas anderes?
3
DAS POLIZEIPRÄSIDIUM befand sich in einem sechzig Jahre alten braunen Backsteingebäude an der Fuzhou Lu. Das graue Eisentor wurde von zwei bewaffneten Soldaten bewacht, doch Chen betrat das Gebäude wie seine Kollegen durch eine kleine Tür, die neben dem Pförtnerhäuschen seitlich vom Haupteingang lag. Wenn gelegentlich die Flügel des Haupteingangs für einen wichtigen Besucher geöffnet wurden, sah man von draußen eine gewundene Zufahrt und in der Mitte des großen Innenhofs ein buntes Blumenbeet.
Oberinspektor Chen erwiderte den steifen Gruß der Wachposten mit einem Nicken und begab sich dann zu seinem Büro im dritten Stock. Er hatte ein kleines abgetrenntes Zimmer innerhalb eines Großraumbüros, in dem über dreißig Kriminalbeamte der Mordkommission Schulter an Schulter an großen Schreibtischen arbeiteten und sich auch die vorhandenen Telefone teilten.
Das Messingschild an seiner Tür – Oberinspektor Chen Cao – funkelte stolz im Morgenlicht. Von Zeit zu Zeit fühlte Chen sich davon angezogen wie von einem Magneten. Der Raum war wirklich sehr klein, ein brauner Eichenschreibtisch und ein ebenfalls brauner Drehstuhl füllten ihn fast völlig aus. Auf einem dunkelgrünen Stahlschrank neben der Tür standen ein paar Teetassen, auf dem Boden neben einem Regal stand eine Thermosflasche. Die Wände waren kahl bis auf ein gerahmtes Foto, das den Genossen Deng Xiaoping auf der Huangpu-Brücke unter einem schwarzen Regenschirm zeigte, den der Shanghaier Bürgermeister hielt. Der einzige Luxus in diesem Büro war ein winziger Kühlschrank; Chen hatte jedoch darauf bestanden, daß seine Kollegen ihn mitbenutzten. Wie seine Wohnung hatte er auch sein Büro bei seiner Beförderung zugewiesen bekommen.
Im Amt ging man davon aus, daß Chens Karriere der neuen Kaderpolitik des Genossen Deng Xiaoping zu verdanken war.
Bis Mitte der achtziger Jahre stiegen die chinesischen Kader gewöhnlich nur sehr langsam auf. Sobald sie einen bestimmten hohen Dienstgrad erreicht hatten, verweilten sie lange auf dieser Stufe; manche gingen gar nicht in Rente, sondern behielten ihre Stellung bis an ihr Lebensende. Wer es mit Mitte Fünfzig zum Oberinspektor gebracht hätte, wäre mit seiner Karriere vollauf zufrieden gewesen. Doch durch die von Deng durchgesetzten drastischen Reformen mußten jetzt auch hochrangige Kader sich aus dem Berufsleben zurückziehen, wenn sie das Rentenalter erreicht hatten. Plötzlich spielte es bei der Beförderung eine wesentliche Rolle, ob man jung und gut ausgebildet war. Chen glänzte zufällig in beiden Bereichen, auch wenn manche Funktionäre, denen Bildung wenig bedeutete, seine Ausbildung nicht sonderlich schätzten, vor allem, weil Chen ja im Hauptfach englische Literatur studiert hatte. Darüber hinaus war Alter für viele gleichbedeutend mit beruflicher Erfahrung. Chens Status war ein Kompromiß. In der Regel würde ein Oberinspektor Chef der Mordkommission sein. Der alte Chef war in Rente gegangen, doch bislang war noch kein Nachfolger ernannt worden. Aus Sicht der Verwaltung stand Chen nur einer Spezialabteilung vor, die aus fünf Mitarbeitern einschließlich des Hauptwachtmeisters Yu Guangming, seines Assistenten, bestand.
Yu war nirgends zu sehen, doch unter der Flut von Papieren auf seinem Schreibtisch fand Chen seinen Bericht.
»Beamter am Fundort der Leiche: Hauptwachtmeister Yu Guangming. Datum: 11.5.90
1. Die Leiche: Eine tote Frau. Name unbekannt. Der unbekleidete Leichnam steckte in einem schwarzen Plastiksack und wurde im Baili-Kanal gefunden. Sie war wahrscheinlich Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, mit einem kräftigen Körperbau, Gewicht etwa 50 kg, Größe 1,60 Meter. Wie sie zuletzt aussah, ist schwer zu sagen. Ihr Gesicht war etwas geschwollen, wies
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