Qiu Xiaolong
das Alter für einen Oberinspektor«, sagte sie und verlangsamte ihre Schritte.
»Ich bin älter als Sie«, sagte Chen. »Viel älter.«
Ein Sonnenstrahl fiel auf ihr offenes Haar und beschien ihr klares Profil. Sie standen nah beieinander, so daß ihr Haar fast seine Schulter berührte.
»Das ist eine der Lieblingsgeschichten meiner Mutter. Der edle Ritter auf seinem Schimmel kommt und rettet die Prinzessin aus dem Verlies, das von schwarzen Drachen bewacht wird«, erzählte sie. »Für sie ist die Welt schwarz und weiß.«
»Und für Sie?«
»Für mich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Dinge sind nun einmal nicht so einfach.«
»Ich verstehe«, sagte er. »Aber ich habe Ihrer Mutter versprochen, Ihnen ihre Nachricht zu überbringen. Sie sind ihre einzige Tochter, und es ist ihr Wunsch, daß Sie nach Hause kommen.«
»Das ist nichts Neues«, sagte sie.
»Wenn Sie wieder zurückkehren und eine andere Arbeit finden wollen, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein.«
»Danke«, sagte sie, »aber ich verdiene ja auch Geld – auf meine Art. Ich bin hier mein eigener Chef und muß keinen politischen Mist aushalten.«
»Wollen Sie das ein Leben lang machen?«
»Nein, ich bin noch jung. Wenn ich genug Geld habe, will ich etwas anderes anfangen, etwas nach meinem Geschmack. Ich nehme an, Sie wollen nicht mehr zu mir aufs Zimmer kommen?«
»Nein, ich muß gehen. Ich habe viel zu tun.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich hoffe«, sagte er noch, »daß wir uns unter anderen Umständen wiedersehen.«
»Ich war … anständig, bis vor zwei oder drei Monaten«, sagte sie. »Ich möchte, daß Sie das wissen.«
»Ich weiß es.«
»Weiß das nur der Oberinspektor?«
»Nein, aber Sie sollen auch wissen«, sagte er, »daß Sie eine attraktive Frau sind.«
»Finden Sie das wirklich?«
»Das finde ich. Aber ich bin eben Polizist. Und das schon einige Jahre lang. Das ist mein Leben.«
Sie nickte und sah zu ihm auf, als wolle sie noch etwas sagen. Aber sie schwieg.
»In meinem Leben ist auch nicht alles so rosig«, fuhr er fort.
»Ich verstehe.«
»Also, machen Sie’s gut«, sagte er. »Auf Wiedersehen.« Dann ging er langsam fort.
Es roch nach Regen, als Chen den überfüllten Bus zum Schriftstellerhaus bestieg. Ihm war übel, und er war über und über mit Schweiß bedeckt. Sowie er in seinem Zimmer war, ging er duschen. Das war heute schon das zweite Mal. Wieder war das heiße Wasser knapp. Eilig verließ er das Bad. Er setzte sich auf sein Bett und zündete sich eine Zigarette an.
Wie Xie lebte, tat ihm leid, aber es stand nicht in seiner Macht, es zu ändern. Sie hatte sich für dieses Leben entschieden. Wenn sie es, wie sie gesagt hatte, nur eine Zeitlang führen wollte, mochte es noch eine andere Zukunft für sie geben. Als Polizist war es eigentlich seine Pflicht, diese illegale Tätigkeit den örtlichen Behörden zu melden. Er hatte jedoch beschlossen, das nicht zu tun.
Oberinspektor Chen wurde sich bewußt, daß es an der Zeit war, aus Guangzhou abzureisen. Da sein Auftrag erfüllt war, hätte er eigentlich Ouyang zu einem Abschiedsabendessen einladen müssen. Es hätte ihm jedoch widerstrebt, seine prosaische Identität vor Ouyang, für den er nun Freundschaft empfand, weiter geheimzuhalten. So schrieb er eine kurze Nachricht, er müsse wegen dringender Angelegenheiten nach Shanghai zurückreisen und werde von sich hören lassen. Er hinterließ auch seine private Telefonnummer.
Chen fügte der Nachricht noch zwei Zeilen von Li Bai hinzu:
Und sei der Pfirsichblütensee auch noch so tief.
Das Lied, das Du mir singst, ist tiefer noch.
Dann reiste er ab.
25
»OBERINSPEKTOR CHEN«, meldete ersieh, nachdem er den Hörer seines Bürotelefons abgenommen hatte. Es war Chens erster Morgen im Büro nach seiner Rückkehr aus Guangzhou. Er hatte kaum Zeit, sich eine Tasse von dem Schwarzer-Drachen-Tee zu bereiten, den Ouyang ihm geschenkt hatte.
»Hier ist das Büro der Shanghaier Disziplinarkommission. Genossin Direktorin Yao Liangxia wünscht Sie heute zu sehen.«
Das war ein unerwarteter Anruf, und die Stimme am anderen Ende der Leitung war unfreundlich.
»Genossin Direktorin Yao?« fragte Chen. »Worum geht es?«
»Das müssen Sie mit Genossin Yao besprechen. Ich nehme an, Sie wissen, wo unser Büro ist.«
»Ja, das weiß ich. Ich bin gleich da.«
Yao Liangxia, deren verstorbener Ehemann Ende der sechziger Jahre stellvertretendes Mitglied des Politbüros gewesen war, war eine
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