Qiu Xiaolong
einflußreiche Persönlichkeit in der Partei. Aus welchem Grund wollte sie ihn sehen?
Chen warf einen Blick aus seiner Kabine in das Großraumbüro. Hauptwachtmeister Yu war noch nicht da. Parteisekretär Li kam immer erst nach zehn. Den Bericht über seine Reise nach Guangzhou konnte er nach seiner Rückkehr von der Disziplinarkommission schreiben.
Das Büro des Komitees befand sich im Zhonghui Mansion. einem der beeindruckenden Gebäude im Kolonialstil Ecke Sichuan Lu/Fuzhou Lu. Chen war oft daran vorbeigegangen, doch war ihm nie aufgefallen, wie viele Institutionen hier ihre Büros hatten: der Verein für die Gesundheit von Senioren, das Komitee für Frauenrechte, der Verband für Verbraucherschutz, der Kinderschutzbund … Er mußte die Tafel im Eingangsbereich mehrmals studieren, bevor er das Büro von Direktorin Yao im dreizehnten Stock fand.
Der bronzefarbene Aufzug war mit einem Raumspray ausgesprüht worden, das wohl gehobenen Ansprüchen genügen sollte. Die Luft war merkwürdig stickig. Chen gelang es nicht, das Gefühl des Eingesperrtseins abzuschütteln, als er den Aufzug verließ, der ihn genau vor Yaos Büro befördert hatte.
Die Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei Chinas war zu Beginn der achtziger Jahre geschaffen worden. Die Zentrale befand sich in Peking, und es gab Zweigstellen in allen großen Städten. Man hatte nach der Kulturrevolution erkannt, daß die Partei mit ihrer grenzenlosen, unkontrollierten Machtfülle gegen Korruption nicht gefeit war, was früher oder später zu ihrem Ruin führen mußte. Um den Machtmißbrauch von Parteimitgliedern zu verhindern und zu ahnden, hatte man die überwiegend aus pensionierten hochrangigen Parteimitgliedern bestehende Kommission geschaffen. Die Hauptaufgabe dieses Wachhundes bestand darin, eine gewisse Zensur auszuüben, er war jedoch keine unabhängige Institution. Zwar war er in einigen innerparteilichen Korruptionsfällen tätig geworden, aber im wesentlichen bellte er mehr, als daß er biß. Allerdings hatte die Kommission, die befugt war, Parteimitglieder zu überprüfen, Einfluß auf die Beförderung junger Kader.
Auf Chens Klopfen öffnete eine Frau mittleren Alters, die ihn fragend ansah. Als er seine Karte übergab, führte ihn die Frau, deren Stimme er als die der Sekretärin am Telefon wiedererkannte, in ein elegant eingerichtetes Empfangszimmer, in dem sich ein langes austernfarbenes Ledersofa befand, das von zwei Mahagonisesseln und einer hohen antiken Hutablage flankiert wurde.
Er hatte sich darauf eingestellt, daß Direktorin Yao ihn eine Zeitlang warten lassen würde. Zu seiner Überraschung erschien sie sofort und begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. Sie führte ihn in ihr Büro und ließ ihn in einem Clubsessel aus Leder Platz nehmen, der vor einem großen Schreibtisch aus Eichenholz stand.
Yao war eine fast siebzig Jahre alte Frau von imposantem Aussehen. Sie hatte ein eckiges Gesicht mit breiten Augenbrauen und trug einen dunklen Anzug, der tadellos, ohne eine einzige Falte, saß. Kein Schmuck. Kaum geschminkt. Sie saß aufrecht, wobei sie hinter ihrem beeindruckenden Schreibtisch ungewöhnlich groß wirkte. Vielleicht war diese Wirkung auf den kombinierten Effekt ihres gestärkten Kragens, des herrlichen Ausblicks aus dem Bürofenster hinter ihr sowie auf Chens bequemen Sessel zurückzuführen. Er war nervös, da er – fast wie ein Inquisitionsopfer – in einem viel tieferen Sessel saß als Yao und zu ihr aufblicken mußte.
»Genosse Oberinspektor, ich freue mich, heute mit Ihnen zusammenzutreffen.« Yao sprach mit einem deutlichen Shandong-Akzent, der auch gut zu dem Bild der »alten Marxistin« paßte, einer berühmten Figur aus dem Film Der Vorfall mit der schwarzen Kanone, in dem eine Parteifunktionärin sich der Lächerlichkeit preisgibt, weil sie alles, was sie sagt, mit Zitaten von Marx und Mao spickt.
»Es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen, Genossin Direktorin Yao.«
»Es ist Ihnen sicherlich bekannt, Genosse Oberinspektor Chen, daß Sie bei uns alten Genossen sehr angesehen sind. Ich habe mich mit vielen Menschen unterhalten, und alle loben Sie als einen intelligenten und engagierten jungen Kader. Sie stehen auf der Seminarliste des Zentralen Parteiinstituts, nicht wahr?«
»Ja, aber ich bin noch jung und unerfahren. Ich muß von den alten Genossen noch so viel lernen.«
»Und ich weiß, daß Sie auch hart arbeiten. Sie sind wohl sehr beschäftigt in der letzten Zeit, Genosse
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